Verflixtes Blau!
beim Gare de Lyon und wartete auf einen Zug, der einen Tag zuvor in Turin und davor in Genua abgefahren war. Der Zug brachte reine Farbe, frisch aus den italienischen Hügeln gegraben: gelbliche und umbrabraune Erden aus Siena, rotes, gelbes und oranges Ocker aus Verona, Neapel und Mailand. Die meisten Hersteller von Ölfarben warteten ab und ließen sich die zerriebenen Mineralien vom Großhändler in ihre Läden liefern, doch der Farbenmann wollte die groben Erze selbst aussuchen, aus denen er seine Farbe erschuf. Mit dem Sacré Bleu übte er seine Macht aus, doch er war ein Mann jedweder Farbe. Einige Rituale brachte er sogar während der Herstellung der anderen Farben zur Anwendung, nicht weil es nötig wäre, sondern weil es die Dienstmädchen erschreckte.
Als die Bremsen des Zuges zischten und kreischten und das riesenhafte Untier zum Stehen kam, fiel dem Farbenmann ein anderer Mann an der Strecke auf, ein schlanker Bursche mit einem Ziegenbärtchen, der einen hellgrau karierten Anzug mit Hut trug, was für einen Schaffner oder Gepäckträger entschieden zu fein war, und abgesehen vom Farbenmann war sonst niemand zu sehen, so weit unten an der Strecke, abseits der Bahnsteige für die Fahrgäste. Der Mann in Grau hielt ein pince-nez und schien die Schilder an den Waggons zu entziffern.
» Was sucht Ihr?«, fragte der Farbenmann.
» Man sagte mir, dies sei der Zug aus Italien«, sagte der Mann und musterte misstrauisch Etiennes Strohhut. » Ich erwarte eine Lieferung farbiger Erden, weiß aber nicht, wo ich sie finden kann.«
» Vermutlich ist es dieser hier«, sagte der Farbenmann und deutete auf einen Waggon, von dem er sicher sein konnte, dass er es nicht war. » Seid Ihr Maler?«
» Ja. Ich bin George Seurat. Hier ist meine Karte.«
Der Farbenmann betrachtete die Visitenkarte, dann reichte er sie Etienne, dem sie zu schmecken schien.
» Ihr habt das große Bild vom Äffchen im Park gemalt.«
» Es war ein sehr kleines Äffchen in einem sehr großen Park. › Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte‹. Bei dem Gemälde ging es mir um die Platzierung der Farbe.«
» Ich mochte das Äffchen. Ihr solltet Eure Farben bei einem Farbenmann kaufen.«
» Ich arbeite nur mit reinen Farbtönen«, sagte Seurat. » Nach Chevreuls Theorie, dass sich die Farben im Auge mischen, nicht auf der Leinwand. Nebeneinanderliegende Punkte von Komplementärfarben lösen eine instinktive, emotionale Reaktion im Kopf des Betrachters aus… eine Vibration, wenn Sie so wollen. Etwas, das sich nicht mit Farben erzielen lässt, die auf der Palette vermischt werden. Ich brauche die Farben so rein wie möglich.«
» Das ist doch gequirlte Scheiße«, sagte der Farbenmann.
» Chevreul war ein großartiger Wissenschaftler. Der führende Farbentheoretiker der Welt, und er hat die Margarine erfunden.«
» Margarine? Ha! Butter ohne Geschmack und ohne Farbe. Er ist ein Scharlatan!«
» Er ist tot.«
» Da seht Ihr es selbst«, sagte der Farbenmann und dachte, allein die Tatsache, dass er noch lebte, stützte seine Argumentation. » Ihr solltet Eure reine Farbe von einem Farbenmann kaufen. Dann habt Ihr mehr Zeit zum Malen.«
Da lächelte Seurat und klopfte mit seinem Gehstock auf die Steine. » Sie sind ein Farbenmann, wie ich vermute?«
» Ich bin der Farbenmann«, sagte der Farbenmann. » Nur die feinsten Erden und Mineralien, keinerlei Streckmittel, gemischt nach Bestellung, in jedem beliebigen Medium. Ich mag Mohnöl. Kein Vergilben. Wie Margarine. Aber wenn Ihr Leinöl oder Walnussöl wollt, habe ich die auch.« Der Farbenmann klopfte mit den Knöcheln gegen den großen Holzkasten, der auf Etiennes Rücken geschnallt war.
» Lasst mich sehen«, sagte Seurat.
Der Farbenmann wuchtete den Kasten von Etiennes Rücken, stellte ihn auf die Steine und klappte ihn auf. » Ich habe kein Blau mehr, aber wenn Ihr wollt, lasse ich Euch etwas davon in Euer Atelier bringen.« Der Farbenmann reichte dem Maler eine Tube Neapelgelb.
» Sehr schön«, sagte Seurat, drückte Farbe von der Länge eines Wurmkopfes aus der Tube und drehte und wendete sie, um das Licht der aufgehenden Sonne einzufangen. » Das sollte gut genug sein. Ich war ohnehin nicht begeistert von der Vorstellung, den ganzen Tag Erze zu zerstampfen. Wie ist Ihr Name?«
» Ich bin der Farbenmann.«
» Das habe ich verstanden, aber Ihr Name? Wie heißen Sie?«
» Der Farbenmann«, sagte der Farbenmann.
» Wie ist Ihr Nachname?«
» Farbenmann.«
»
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