Verflucht himmlisch
legte eine Tafel Schokolade und die Fleischklößchen dazu und jagte zurück in mein Zimmer.
Ich kniete mich neben den Schreibtisch, wo Leanders Augen schwach in der Dunkelheit aufglommen, öffnete die Flasche Milch und hielt sie ihm an den Mund.
»Trinken!«, befahl ich, ohne daran zu denken, dass er womöglich nicht genau wusste, wie man trank. Nein, er wusste es wirklich nicht. Schon bei seinem ersten Zug verschluckte er sich so sehr, dass ihm beim Husten die Tränen aus den Augen schossen und er die Milch würgend auf meine Pyjamahose kotzte.
»Langsam«, sagte ich, als er wieder atmen konnte. Mein Herz stolperte vor Anspannung. Ich wollte keine Geistleiche in meinem Zimmer liegen haben. »Kleine Schlucke. Und hör mit dem Atmen auf, wenn du trinkst.«
Er versuchte es noch einmal. Jetzt klappte es besser. Zwischen den Schlucken holte er Luft wie ein Ertrinkender. Ich angelte mir den Teller mit den Fleischklößchen, suchte nach dem kleinsten, brach es in zwei Hälften und schob ihm eine davon vorsichtig in den Mund.
»Kauen.« Mann, war das idiotisch. Ich brachte einem ausgewachsenen Jungen das Essen bei. Okay, einem Geist oder was auch immer. Trotzdem war das alles andere als cool. Schmatzend zerbiss er den Brocken und schluckte.
»Ich glaube, ich mag das nicht.«
»Iss jetzt!« Ich quetschte ihm den Rest in den Mund und stellte den Teller vor seine Füße auf den Boden. Dann setzte ich mich aufs Bett und hörte ihm beim Schmatzen zu.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Leander war mit den Fleischklößchen beschäftigt, sodass ich ihn in Ruhe anschauen konnte. Nein, natürlich sah er nicht aus wie Guiseppe. Nicht einmal ansatzweise. Keine kurzen schwarzen Haare. Keine dunklen Augen. Sondern – nanu, was war denn das? Ich knipste das Licht an.
Kauend blickte Leander auf.
»Wow«, sagte ich leise. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Vielleicht bei einem Husky. Aber nicht bei einem Menschen – oder einer Menschengestalt. Er hatte ein grünes und ein blaues Auge. Es war ein dunkleres Grün als das meiner Augen und intensiver, fast wie Grashalme im Sonnenlicht. Das andere erinnerte mich an frisch gefallenen Schnee an einem Winterabend. Über beide Augen wölbten sich schmale braune Brauen und sie wurden von dichten Wimpern umkränzt.
»Ich konnte mich nicht entscheiden«, sagte Leander achselzuckend. »Also hab ich beides genommen. Blau und grün. Stylish, oder?«
Ich antwortete nicht. Ich merkte, dass ich ihn anstarrte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu lächeln. Nein, mit Guiseppe hatte sein Aussehen nichts zu tun, weder sein Körper noch sein Gesicht, und ich war mir sicher, dass Leander keine Sekunde daran gedacht hatte, so auszusehen wie Guiseppe. Dennoch fand ich gar nicht so verkehrt, was da entstanden war. Seine dunkelblonden, stürmischen Haare waren nackenlang. Er hielt sie mit einem schwarz-grau gemusterten Tuch aus der Stirn, dessen Fransen sich über seine Schulter legten. Um den Hals reihten sich mindestens fünf Ketten, irgendwelche Silberamulette an Lederbändern und eine Kette, die mich an das Metallband an unserem Badewannenstöpsel erinnerte. Seine Haut war gebräunt, als käme er direkt aus dem Sommerurlaub, aber wenn er sich bewegte, schimmerte sie leicht bläulich, genauso wie das Weiße in seinen Augen. Während er kaute, erkannte ich, dass er links ein Grübchen in der Wange haben würde, wenn er lächelte. Falls er denn lächeln konnte. Bisher hatte er ja nur geschimpft und gezetert und gejammert.
Er war nicht groß, aber auch nicht klein. Irgendwie genau richtig. Unter seinen verwaschenen Jeans lugten ein paar abgetragene Schnürstiefel heraus, deren Leder mehr grau als schwarz war.
»Sind bequem«, erklärte er mümmelnd.
»Aha. Und ansonsten ist der Sommer ausgebrochen, was?«, sagte ich spöttisch und zeigte auf seinen Oberkörper. Leander trug nichts als ein anliegendes, geripptes Trägershirt und eine schwarze, kurze Lederweste.
»Ja, ich finde es fürchterlich warm.«
»Wir haben November! Und Papa hat wie immer nachts die Heizung ausgestellt. Es ist kalt. Arschkalt.«
»Kannst du nicht ein Mal sprechen wie ein Mädchen?«
Statt zu antworten, kletterte ich aus dem Bett, ging auf ihn zu und legte meine Hand auf seine Stirn.
»Du hast Fieber. Kein Wunder, dass dir warm ist.«
»Fieber? So fühlt sich also Fieber an?«, fragte er irritiert. Ich zog meine Hand wieder zurück.
»Na, erhöhte Temperatur
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