Verflucht sei Dostojewski
auszudrücken, und mit seinem Traum, in dem er sie durch die Straßen von Sankt Petersburg verfolgt. Und wenn diese Frau im himmelblauen Tschaderi wirklich Suphia gewesen ist? Dumme Frage, die ihn zum Handeln zwingt. Er stürzt in den Hof. Suphia ist bereits auf der Straße. Er wäscht sich mit dem Wasser aus dem Hahn das Gesicht, eilt ins Zimmer zurück, zieht sich um, läuft hinaus und folgt Suphia.
Aber was für ein absurder Gedanke! Wenn es Suphia gewesen wäre, hättest du ihre Stimme erkannt.
Ihre Stimme?
Er bleibt stehen.
Sag nicht, du erkennst sie nicht!
Natürlich erkenne ich sie, aber ich kann mich nicht an den Klang ihrer Stimme erinnern, wenn sie schreit. Tatsache ist, dass ich sie noch nie habe schreien, noch nie die Stimme habe heben hören. Und ihr Gang? Ihre Art zu rennen?
Suphia bewegt sich wie ein Fisch. Ihre Schultern gehen wie Flossen vor und zurück. Ja, das war früher ihre besondere Art, sich zu bewegen, als sie noch nicht den Tschaderi trug. Unter der Verhüllung ihres Tschaderi gehen alle Frauen gleich, oder nicht?
Doch.
Der Zweifel und die Unsicherheit beschleunigen Rassuls hinkende Schritte auf dem Weg zu Suphias Haus. Er ist seltsam überreizt, unfähig, sich davon zu überzeugen, dass sich ein so schüchternes, unschuldiges Mädchen wie Suphia niemals auf ein solch gefährliches Abenteuer einlassen würde.
Sie war es, möchte er laut hinausschreien. Sie war es! Sie hat es nicht nur aus Liebe zu mir und ihrer Familie getan, sondern auch aus Hass auf nana Alia. Ja, sie hat es getan!
Als er sich zwischen den Passanten hindurchschlängelt, die von dem schwarzen Rauch verhüllt sind, der über der Stadt liegt, packt ihn eine Hand an der Schulter und stoppt ihn. »Rassulowski?«, sagt die lachende Stimme Janos hinter ihm. Als er die Wunden in Rassuls Gesicht sieht, fragt er: »Sind die von uns?« Nein, von einer Klinge, bedeutet Rassul, indem er so tut, als würde er sich rasieren. Die Klinge des Schicksals, hätte er hinzugefügt, wenn er seine Stimme noch hätte. »Was für ein Glückspilz! So weißt du doch wenigstens, dass du ein Schicksal hast«, hätte Jano ihm bestimmt erwidert. Ein Schicksal? Darauf könnte Rassul gerne verzichten.
»Und die Stimme?«
Noch immer nichts.
Nachdem sie schweigend ein paar Schritte gegangen sind, fragt Jano: »Und, willst du dich nun dem Kommandeur Parwaiz anschließen? Du würdest eine hübsche Kalaschnikow kriegen! … Kannst du schießen?« Nein. »Kannst du alles an einem Tag lernen. Übrigens …«, er nähert sich Rassul, »die Kugel findet ihr Ziel von alleine«, flüstert er lachend. Ein kurzes, gutmütiges Lachen, gefolgt von einem Augenzwinkern in Richtung der Kalaschnikow, die er unter seinem patu versteckt hält.
Wieder ein paar Schritte, wortlos. Sie denken nach – Rassul über die langsame Klinge seines Schicksals, Jano über die Zielscheiben seiner verirrten Kugeln –, bis sie an einer tschaichana vorbeikommen und der junge Soldat Rassul auf einen Tee einlädt. Warum nicht? Er hat Lust, zu essen und zu trinken, vor allem aber, Parwaiz’ Bande kennenzulernen, zu erfahren, ob sie nana Alias Leiche entdeckt haben oder nicht. Kurz, er hat tausendundeinen Grund, lieber ihn zu begleiten und das Mysterium zu durchdringen, als Suphia zu treffen.
Drinnen setzen sie sich ans Fenster, neben drei bewaffnete Männer, die bei ihrer Ankunft ihr Getuschel unterbrechen und sie beäugen.
Jano bestellt Tee und Brot. Übergangslos fragt er Rassul: »Dein Vermieter …, kennst du ihn gut?« Ja, nickt der mit betrübter Miene. »Gestern Abend, als wir ins Haus gekommen sind, nur auf Patrouille, hat er sich auf uns gestürzt, da sei ein ehemaliger Kommunist, ganz merkwürdig, der seine Miete nicht mehr bezahle …« Rassuls hartnäckiges Schweigen verunsichert Jano. Er blickt verlegen zu ihren Nachbarn hinüber, die sie noch immer mustern. Aufdringlich. Nach einem geräuschvollen Schluck von seinem Tee fährt er fort: »Du, du hast eine Klinge, die dir das Gesicht zerschrammt. Unsere ist schärfer, sie verletzt unsere Seele!« Er stopft sich einen Bissen Brot in den Mund. »Ich war erst zwölf, als der Krieg ausbrach. Mein Vater hat mir ein Gewehr umgehängt und mich in den Dschihad gegen die Rote Armee geschickt. Was ich alles gesehen habe … Wärst du an meiner Stelle, würdest du kein einziges russisches Wort mehr ertragen, mein Kleiner. Sie haben unser Dorf abgefackelt. Und ich habe die Leichen meiner Familie gefunden, völlig verkohlt!
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