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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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steht auf und geht ans Fenster, öffnet es. Was für ein herrliches Wetter da draußen! Er zieht die Schuhe an und verlässt eilig das Zimmer, läuft die Treppe hinunter, überquert den Hof, vermeidet es, dem Vermieter zu begegnen. Und findet sich auf der Straße wieder. Frohen Herzens, leichten Schrittes geht er Richtung Fluss. Überall Frauen, Männer, junge Leute, Musikanten, die in der Nachmittagssonne flanieren. Er mischt sich unter die Passanten am Ufer der Newa. Niemand beachtet ihn. Niemand wirft ihm argwöhnische Blicke zu. Dabei kann er doch eigentlich mit seinen zerlumpten, blutbefleckten Kleidern gar nicht unbemerkt bleiben. Welch ein Glück, nicht wahrgenommen zu werden, unsichtbar zu sein! Voller Freude über seine Unauffälligkeit erblickt er plötzlich in der Menge eine Frau im himmelblauen Tschaderi. Was macht sie denn in Sankt Petersburg? Raschen Schrittes geht sie an ihm vorbei. Er schaut ihr verblüfft nach. Ihr Gang ist ihm vertraut. Sie verschwindet in der Menge. Endlich gewinnt er seine Fassung zurück und läuft ihr hinterher. Er entdeckt die Frau im Tschaderi wieder, als sie eine belebte Kreuzung überquert. Atemlos rennt er ihr nach, bis er sie mit ausgestreckter Hand berühren kann. Er bekommt ihren Tschaderi zu fassen und hebt ihn an. Die Frau ist nackt. Entsetzt kauert sie sich zusammen, um ihren Körper und ihr Gesicht zu verstecken, aber auch den Gegenstand, den sie in der Hand hält. Dann hebt sie langsam den Kopf. Es ist Suphia. Sie klemmt sich die Schmuckschatulle der nana Alia zwischen die Knie. Rassul starrt sie verwirrt an und murmelt etwas Unhörbares. Dann schließt er die Augen und wirft sich ihr zu Füßen, um zu schreien, um Suphia zu danken. Er fühlt sich gerettet. Sie hat ihn gerettet. Eine Hand schüttelt ihn. »Rassul! Rassul!« Das ist nicht Suphias Stimme. Das ist eine Männerstimme. Eine Stimme, die er kennt. Es ist Razmodin, sein Cousin. Aber wo ist er?
    Hier vor dir, in deinem Zimmer. Mach die Augen auf!
    Noch im Halbschlaf kämpft sich Rassul hoch, und Verbrechen und Strafe rutscht ihm von der Brust. »Razmodin?« Der Name seines Cousins bewegt seine Lippen und verliert sich auf ihnen. Hüstelnd deutet er ein »Salam« an. Razmodin, der neben ihm kniet, schaut ihn besorgt an. »Alles in Ordnung, Cousin?« Rassul reißt die Augen auf, um sie benommen gleich wieder zu schließen. »Was ist los? Geht’s dir gut?«, fragt Razmodin noch einmal. Rassul nickt und setzt sich auf die Matratze, den Blick ausweichend auf das eingeschlagene Fenster gerichtet. Es ist bereits Tag, doch die Sonne ist noch immer schwarz, schwarz hinter dem Rauch. »Soll ich dich zu einem Arzt bringen?« Nein, es geht schon, bedeutet er. »Ja, das sieht man! Sag mir, was los ist!« Besorgt bleibt Razmodins Blick an Rassuls Hemd hängen. »Was ist das für Blut? Haben sie dich verprügelt?«
    Rassul denkt kurz nach, dann steht er auf, um in den Hof zu schauen, wo er Yarmohamad bemerkt, der ihn beobachtet. Er gibt ihm ein Zeichen heraufzukommen. Doch Yarmohamad zieht sich in sein Haus zurück. »Lass ihn! Er ist heute im Morgengrauen in mein Büro gekommen, um mir alles zu erzählen. Er war bleich und sagte, er sei es nicht gewesen … Und es stimmt. Im Moment patrouillieren sie überall. Vor allem in diesem Viertel … Du hast ja keine Ahnung, was im Augenblick in diesem Land los ist. Du vergräbst dich in deiner Welt und interessierst dich kein bisschen …« Hör auf, Razmodin, bitte! Schau, was sie ihm angetan haben.
    Razmodin verstummt, nicht, um sich ein Bild von Rassuls Zustand zu machen, sondern um sich seine Erklärungen anzuhören. Er wartet einen Augenblick. Kein Wort. Er wundert sich. Rassul schiebt die Ärmel hoch, um ihm seine blauen Flecken zu zeigen. »Diese Hurensöhne! Aber du bist genauso übergeschnappt. Warum behältst du auch in solchen Zeiten diese ganzen russischen Bücher?« Der Schmerz in Rassuls Knöchel macht sich wieder bemerkbar. Mit verzerrtem Gesicht kehrt er zu seinem Bett zurück, um ihn zu massieren. Sein Cousin schaut ihn verächtlich an: »Dostojewski! Dostojewski! Ständig reitest du dich in die Scheiße mit deinem Dostojewski! Woher sollen die denn Dostojewski kennen?«
    Nicht alle sind so ungebildet wie du, Razmodin! Der Kommandeur Parwaiz, dessen Name dir bestimmt nicht unbekannt ist, der kennt ihn. Seine Truppen befinden sich genau gegenüber von deinem Hotel, im Informations- und Kulturministerium. Aber in meinem gegenwärtigen Zustand kann ich nicht mit

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