Verflucht sei Dostojewski
Mädchen. Die Kriegskommandeure führen Razzien durch, um sie als Ehefrauen zu nehmen.« Ein Schluchzen bricht ihre Stimme. Aber Rassul achtet nicht mehr darauf. Seine Beine schwanken. Der Boden unter seinen Füßen scheint einzustürzen, sich aufzulösen. An die Wand gelehnt, lässt er sich zu Boden gleiten. Die Mutter fährt fort: »Noch schlimmer als die Kommandeure ist diese teuflische nana Alia. Ich habe Angst, dass sie Suphia etwas antut.« Sie setzt sich Rassul gegenüber. »Mein verstorbener Mann hat uns vor seinem Tod dir anvertraut, außer dir haben wir niemanden mehr. Und du …«
Und er, in sein Schweigen eingemauert, gefangen genommen von dem Geheimnis, das über dem Mord an der teuflischen nana Alia schwebt, verstört wegen des Verdachts gegenüber der Frau im himmelblauen Tschaderi, die in seinen Wahnvorstellungen niemand anders als Suphia sein kann. Er muss sie finden!
Er steht auf. Und geht.
Unterwegs
begegnet er keinem Blick,
hört er keine Stimme,
riecht er keinen Geruch,
fühlt er keinen Schmerz.
Er rennt.
Er rennt, als ob sein Knöchel nicht mehr weh tun würde.
Sein Fuß aber hat es nicht vergessen. Er knickt ein, stoppt Rassuls Schwung. Er stoppt ihn nicht weit vom Haus der nana Alia entfernt, an der Straßenecke, wo er auf den schwarzen Hund trifft, den immer selben, am Fuß der Mauer hingefläzten Hund. Ob das Faultier diesmal etwas Kraft aufbringt, um sich aufzurappeln und sich auf ihn zu stürzen, ihn von hier zu vertreiben? Rassul kann doch das Haus nicht betreten, als wäre nichts geschehen.
Es ist nichts geschehen. Schauen wir, hören wir! Diese Stille, diese Erstarrung zeigt keinerlei Anzeichen von Trauer.
Dann war mein Schlag mit dem Beil vielleicht doch nicht tödlich. Sie hat überlebt. Und liegt jetzt im Krankenhaus. Sie kann noch nicht wieder zu sich gekommen sein, sonst säße ich längst hinter Gittern.
Sein Körper schwitzt, schwitzt die Angst aus. Bloß weg von hier, er muss in Suphias Haus zurückkehren und auf sie warten. Doch seine Beine sind schwer, stecken im Boden fest, als wollten sie, dass er hierbleibt, um mit der ganzen Geschichte Schluss zu machen.
Ja, er muss Schluss machen.
Früher oder später wird nana Alia alles sagen.
Früher oder später wirst du für deine Tat büßen.
Also warum nicht gleich heute, hier und jetzt, am Ort des Geschehens?
Also nähert er sich der halboffenen Tür, stößt sie vorsichtig auf und späht in den Hof. Das Haus liegt still und ruhig da. Nur ein paar pickende, gackernde Hennen. Er tritt ein. Geht auf die Terrassentreppe zu. Die Luft ist drückend. Die Stille schwer. Seine Schritte sind unsicher … Er bleibt stehen, schaut durch die Fenster. Hinter den Vorhängen keine Menschenseele. Angst und Neugier lassen seine Schläfen pochen. Auf seiner Stirn perlt der Schweiß. Er stützt sich an der Mauer ab, um die Stufen hinaufzusteigen. Auf der Terrasse angekommen, zuckt er zusammen, als in der Dunkelheit des Flurs, jetzt doch, eine Gestalt auftaucht. »Rassul? … Bist du es?«, erklingt Suphias Stimme. Rassul versucht zu sprechen, vergisst vor Schreck seine Stummheit; seine Lippen bewegen sich vergeblich, um zu erklären, dass er gekommen ist, sie zu holen, dass sich ihre Mutter große Sorgen macht … Suphia muss lachen. »Was ist los? Ich höre nichts«, sagt sie und kommt näher. Rassul bleibt stumm stehen und sieht hinter Suphia eine zweite Gestalt aus dem Flur treten. Es ist Nazigol.
» Nana Alia ist seit gestern verschwunden. Niemand weiß, wo sie ist …«, ruft Suphia aus.
Den Blick starr auf Nazigol gerichtet, weiß Rassul nicht, was er tun, was er denken, was er sagen soll. Nana Alia ist nicht mehr da. Das ist die einzige Gewissheit. Was ist von dieser Nachricht zu halten? Soll er sich freuen? Soll er auf der Hut sein?
Nazigol tritt einen Schritt näher: »Als ich gestern Abend zurückkam, war niemand da. Meine Mutter geht nie aus dem Haus, ohne dass jemand hier ist, schon gar nicht am Abend.«
Immer verblüffter, immer entrückter starrt Rassul die beiden Mädchen an.
Nazigol wendet sich an Suphia: »Als ich das Haus leer vorfand, hatte ich Angst, allein hierzubleiben. Ich habe alle Türen abgeschlossen und bin gegangen …« Ihre Stimme wird immer dünner. Sämtliche Töne verblassen. Rassul hört nichts mehr, sieht nichts mehr. Da ist nur noch ein Loch, ein schwarzes Loch, der Flur, still und bedrohlich, ein tiefer Schlund, ohne Ende, ohne Ausgang.
Wie betäubt geht er hinein, und der fette
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