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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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Glases, auf dem nur dein eigenes Abbild zu sehen ist, das du den anderen entgegenhältst, um zu sagen: Seid wie ich! «
    Halt besser den Mund, Razmodin. Du denkst, ich täte so, als würde es mich nichts angehen, was du sagst. Zum Glück weißt du nicht, dass ich zum Schweigen verdammt bin, sonst würdest du weiterreden. Du würdest dein Herz ausschütten, das noch ganz schwer ist von den Beleidigungen, die ich dir letztes Mal zugefügt habe, ohne dass ich erwidern könnte, dass ich deine Barmherzigkeit gar nicht will, dass ich auf diesen Flohmarkt der guten Taten verzichten kann, dass ich diese Großzügigen nicht ausstehen kann, die nur darauf warten, dass man sich über ihre Großzügigkeit auslässt, dass ich diese Geier nicht ausstehen kann, die über unseren Leichen kreisen, diese Schmeißfliegen, die um den After einer verreckten Kuh herumschwirren. Ja, ich kann das alles nicht mehr ausstehen, mich selbst nicht und dich nicht, meinen Cousin, den Freund aus Kindheitstagen; dich, der du mir in die Augen schaust und auf ein paar Worte von mir wartest. O nein, von mir bekommst du nichts mehr zu hören. Vielleicht deutest du mein Schweigen als Gleichgültigkeit dir gegenüber. Oder als Resignation angesichts deiner Vorwürfe.
    Deute es, wie du willst. Was ändert das schon in der Welt? In mir? Nichts. Also lass mich in Ruhe!
    Nach diesem langen Schweigen legt Razmodin von neuem los: »Du willst nicht mehr mit mir reden? War’s das also?« Rassul lässt von seiner Wäsche ab. Er zuckt die Schultern, um zu zeigen, dass er nichts mehr zu sagen hat. Enttäuscht steht Razmodin auf, »du bist vor allem durcheinander, Rassul. Wenn du keine Lust hast, mich zu sehen, mir zuzuhören, dann gehe ich …«, er nähert sich der Tür, »wenn ich die Miete bezahlt habe, dann nur, um die Ehre der Familie zu retten. Und basta!«, und verschwindet.
    Rassul bleibt verdutzt und mit verzerrtem Gesicht zurück. Dann stürzt er ans Fenster, um zu schreien.
    Nicht einmal mehr meine Verzweiflung, meinen Hass, meine Wut kann ich hinausschreien …
    Dann schrei die Hoffnung hinaus, die Freude, die Gelassenheit. Vielleicht hilft dir das, deine Stimme wiederzufinden.
    Wo soll ich sie suchen?
    Da, wo du sie verloren hast.

VOLLER HASS UND ZORN betrachtet er sich in einem kleinen Spiegel an der Wand. Streicht sich über den Bart. Mit den letzten Tropfen Wasser aus dem Krug benetzt er die Wangen, greift zum Rasierer; die Klinge ist stumpf. Er legt sie an und drückt. Die Klinge schürft ihm die Haut auf. Er blutet. Ohne darauf zu achten, rasiert er verbissen weiter, schabt mit der Klinge übers Kinn, unter dem Kinn entlang … Eine Fliege streicht um seine Wunden herum. Er verjagt sie. Sie kommt zurück, leckt das Blut. Mit barscher Geste vertreibt Rassul sie erneut, dabei rutscht ihm der Rasierer über die Wange. Noch eine Wunde; er macht sich nichts daraus. Zunehmend nervös schrappt er weiter, als wollte er sich die Haut abschaben.
    Schrittgeräusche auf der Treppe verlangsamen seine Bewegungen. Es klopft an der Tür. Rassul verharrt einen Moment regungslos, dann öffnet er, ohne sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Eine Frau im himmelblauen Tschaderi steht da. Als sie Rassul sieht, weicht sie mit einem dumpfen Schrei zurück. Sie nimmt den Schleier ab. Suphia. Ihre unschuldigen Augen weiten sich erschrocken. »Rassul, was ist passiert?« Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht, seine Lippen bewegen sich, um zu sagen, es war die stumpfe Klinge … Gesten, die sie nicht versteht. »Was ist los?« Nichts, bedeutet Rassul verzweifelt. »Wir haben gestern bis spätabends auf dich gewartet, warum bist du nicht gekommen? Meine Mutter macht sich große Sorgen. Sie hat die ganze Nacht kein Auge zugetan.« Soll ich ihr zu verstehen geben, dass ich die Stimme verloren habe? Ja, warum nicht. Wem, wenn nicht ihr, kannst du dich anvertrauen?
    Er macht einen Schritt zur Seite, damit Suphia eintreten kann. Er beginnt, nach einem Stift und Papier zu suchen. Sie aber bleibt, nach einem Blick auf Yarmohamads Kinder, die sie beobachten, lieber auf der Schwelle stehen. »Ich will nicht stören. Ich bin nur gekommen, um dich zu holen, um …« Sie spricht den Satz nicht zu Ende, irritiert durch Rassuls hektisches Stöbern in seinen Büchern. Nach einer Weile des Zögerns und des Schweigens beschließt sie, den Tschaderi wieder übers Gesicht zu ziehen und zu gehen, und Rassul bleibt allein mit seiner Suche nach einem Stift, um seine stummen Worte

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