Verflucht sei Dostojewski
selbst.
Razmodin folgt ihm: »Du hast wieder alles vernachlässigt, das Essen, den Schlaf …« Er holt ein paar Scheine hervor und schiebt sie Rassul in die Tasche. »Versprich mir, dass du dich um dich kümmerst. Geh zum Arzt. Iss etwas, ruh dich aus, schau, dass du wieder zu Kräften kommst. Ich werde nach dir sehen …«
Warum bloß diese Verachtung gegenüber Razmodin, einem so wohlwollenden Cousin?
Weil ich weiß, warum er so rührend für mich sorgt. Es geschieht nicht aus Mitleid oder Freundschaft. Sondern weil auch er meine Schwester heiraten will. Das ist der Grund!
Na und?
Verstimmt verlässt Rassul das Hotel.
Die Straße ist noch immer in dicken Rauch gehüllt, die Luft stickig. Nach ein paar Schritten bleibt er stehen, überlegt: »Wer ist bloß dieses Arschloch Rostam?«, raucht eine Zigarette, dann schaut er auf die andere Straßenseite zum Informations- und Kulturministerium, vor dem es von bewaffneten Männern wimmelt. Unter ihnen Jano. Als er Rassul sieht, winkt er ihm zu: »Hallo, Rassulowski!« Rassul überquert die Straße und geht zu ihm. »Na, hast du dich entschieden? Komm mit!« Sie betreten das Gebäude, steigen die Treppe hinunter und gehen den düsteren, verqualmten Flur im Untergeschoss entlang, bis sie Kommandeur Parwaiz gegenüberstehen, der, über eine große Karte von Kabul gebeugt, mit zwei Bärtigen diskutiert. Die Stimmen der Männer werden vom Getöse eines Generators übertönt. Jano geht auf Parwaiz zu, um ihn auf Rassuls Anwesenheit aufmerksam zu machen.
»Wie geht’s denn unserem Dostojewski-Leser? Willkommen. Du bist jünger geworden seit gestern Abend!«, sagt Parwaiz mit seinem entwaffnenden Lächeln. Rassul streicht sich über das Gesicht, um anzudeuten, dass es an dem fehlenden Bart liegt. »Hat er dich geekelt, der Bart?« Lachen. »Und die Stimme?« Rassul zieht eine Grimasse. » Watandar , warum hast du mir gestern Abend nicht gesagt, dass du Razmodins Cousin bist? Wir kennen uns aus dem Gefängnis. Und? … Kommst du zu uns?« Ja, nickt er mit einem verlegenen Seitenblick auf die beiden anderen. »Die gehören zu uns«, beruhigt ihn Parwaiz. Nach einem kurzen Schweigen, das dem Schwanken zwischen Sagen, Nichtsagen und Wie-Sagen geschuldet ist, nimmt Rassul einen Stift, der auf der Kabul-Karte liegt, und kritzelt in eine Ecke den Namen von Kommandeur Rostam. Parwaiz liest ihn laut vor und fragt Rassul erstaunt: »Gehst du mit Kommandeur Rostam?« Als sie den Namen hören, drehen sich die beiden Männer zu Rassul um. Was ihn noch mehr einschüchtert. Einer sagt: »Wer kennt den nicht!«, und wendet sich eindringlich an Parwaiz: »Übrigens, darüber wollte ich sowieso mit dir reden. Es geht das Gerücht, du willst dich mit ihm zusammentun.«
»Ja, aber …«
»Beruhige mich, sag, dass es nur ein Gerücht ist!«
»Leider ist es die Wahrheit!«
»Darum also ist er in Kabul! Und du bist einverstanden?«
»Die Entscheidung liegt nicht bei mir …«
»Parwaiz, denk gut über das nach, was ich dir jetzt sage: An dem Tag, an dem ich erfahre, dass dieses Schwein unter uns ist, an dem Tag siehst du mich dir gegenüber auf der anderen Seite der Front.«
»Kommandeur Morad, es ist besser, in Frieden mit ihm zu leben, als …«
»In Frieden mit seinem Feind? Glaubst du an den Frieden zwischen einem Wolf und einem Lamm?«
»Es stimmt, was du sagst, aber es ist eine Pflicht, mit seinem Feind Frieden zu schließen; mit dem Freund, wozu?«
»Aber warum? Du weißt ganz genau, dass wir uns hassen! Wenn ihr mit ihm Frieden schließen wollt, ist mein Platz nicht mehr unter euch. Leb wohl!«
Er nimmt sein Gewehr und stürmt hinaus. Parwaiz und der andere Mann hinterher. Rassul bleibt allein zurück, ratlos, betrachtet die Kabul-Karte, die zerknittert und durchlöchert auf dem Tisch liegt.
Dann ertönt der Ruf »Donia!«, der Name seiner Schwester, in ihm.
DIE STADT KABUL WARTET auf Wind. Sie wartet auf Wind, wie sie auf Regen wartet, damit diese Trockenheit endlich ein Ende hat. Bis vor fünf Wochen hat sich der Wind immer schon erhoben, bevor die Sonne hinter den Bergen verschwunden war. Er hat den Sand aufgewirbelt, der über der Stadt, in jeder Ecke und jedem Winkel des Lebens lag, und ihn vertrieben. Er wehte aus keiner bestimmten Richtung. Es war, als stiege er aus dem tiefsten Innern der Erde heraus; er drehte seine Runden, erlaubte der Stadt, wieder zu atmen, zu schlafen, zu träumen … und verschwand. Nun bläst er gar nicht mehr. Er lässt alles
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