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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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Warum?«, ruft er aus. Rassul schwenkt die Krücke vor seinen entsetzten Augen, starrt ihn lange und zornig an. Der Alte ringt nach Atem.
    »Du hast sie gestohlen« , schreibt er neben Moharamollahs Namen. »O nein! Die Krücke gehört mir. Ich habe sie gekauft. Ich schwöre es dir …« Doch der Stock schlägt auf sein krankes Bein, und er stößt einen markerschütternden Schrei aus. »Hilfe!« Rassul packt ihn an den Haaren und drückt seinen Kopf zu Boden, damit er laut vorliest: » Ich bin ein Verräter« ; er aber liest nicht, er schreit noch lauter: »Hilfe! Rettet mich! Zu Hilfe!« Diesmal trifft der Stock seinen Schädel und bringt ihn zum Verstummen. Unter Tränen fleht der Mann: »Mein Bruder, bist du ein Moslem, oder nicht? Ich habe sechs Kinder. Allah, Erbarmen! … Ich hab kein Geld. Ich schwöre dir, ich hab kein Geld.« Der Ärmste! Er weiß nicht einmal, dass er schon längst einen offenen Schädel hätte, wenn es um Geld ginge.
    Lass ihn, Rassul! Er wird nie verstehen, was du von ihm willst und warum.
    Er soll zugeben, dass er ein Verräter ist. Er soll schreien.
    Die Krücke hebt sich erneut, begleitet vom Schrei des Mannes: »Schlag nicht! Ich bin einverstanden. Schlag nicht.« Die Krücke bleibt in der Schwebe. »Ich habe Verrat begangen! Verzeih mir! Allah, ich bitte um Vergebung …« Wieder geht die Krücke auf seinen Schädel nieder; er schreit voller Schmerz, voller Angst. »Schlag nicht! Ich habe verraten.« So ist es gut, so soll er schreien, »ich habe verraten«, lauter, »ich habe verraten«, noch lauter. Damit die ganze Welt es hört. Schrei! »Ich bin ein Verräter! Ein Verbrecher!« Nein, kein Verbrecher. DU BIST EIN VERRÄTER !
    Rassul, du bist reif für die Irrenanstalt von Aliabad. Woher soll der arme Tropf deine Hirngespinste kennen? Er ist nun mal nicht damit groß geworden. Für ihn sind Verrat und Verbrechen ein und dasselbe, haben beide dasselbe Gewicht.
    Nein. Er kann sie sehr wohl auseinanderhalten. Er stammt von hier, aus diesem Land, in dem der Verrat schwerer wiegt als das Verbrechen. Egal, ob man tötet, stiehlt oder vergewaltigt … Es zählt einzig, dass man keinen Verrat begeht. Dass man Allah nicht verrät, seinen Clan, seine Familie, sein Vaterland, seinen Freund … Und genau das hat er getan!
    Unnötig, nach Entschuldigungen zu suchen. Nichts rechtfertigt dein brutales Vorgehen gegenüber diesem Mann, nichts, es sei denn, du willst ein erneutes Verbrechen begehen, um dieselbe Situation noch einmal zu erleben, denselben Schock, dieselbe Emotion, die dich stumm gemacht hat. Und das alles, um deine Stimme wiederzufinden?
    Lass den Mann leben. Deine Stimme wiegt kein Leben auf, nicht einmal die des Propheten.
    Totenbleich schlägt er die Krücke so fest an die Mauer, dass sie zerbricht. Er setzt sich. Der Mann weint.
    Als Rassul wieder zu Atem gekommen ist, zündet er sich eine Zigarette an und wirft einen Blick auf den Hinkenden, der sich stöhnend aufzurichten versucht. Er zündet eine zweite Zigarette an und reicht sie ihm.
    Dann geht er.
    Er betritt die saqichana .
    Kaka Sarwar und seine Bande sind nicht da. Aber das Rauchergeschoss ist brechend voll. Sämtliche Blicke sind auf einen halluzinierenden Mann mit langen Haaren und langem Bart gerichtet. Jeder hält ihm irgendetwas hin: ein Glas Tee, einen Fünfhundert-Afghani-Schein, eine Gewehrkugel. Der Halluzinierende nimmt den Schein; er nimmt die Kugel, steckt sie in den Mund und schluckt sie hinunter; dann nimmt er das Glas Tee und leert es in einem Zug. Ein Mann, derjenige, der ihm das Geld gegeben hat, dreht sich verblüfft zu den anderen um. »Das sind schon fünf Kugeln! Habt ihr das gesehen? Das ist die fünfte Kugel, die er verschluckt.«
    Gleichgültig gegenüber den fassungslosen Blicken, steht der Halluzinierende auf und verlässt mit einem heiseren »Ya hoo«, gefolgt von ein paar Männern, das Rauchergeschoss.
    Für zwei Marlboros bekommt Rassul einen tiefen Zug aus der Haschischpfeife, den er lange in den Lungen behält. Er schließt die Augen. Und die Welt verschwindet, wie die Kugeln im Mund des Mannes, bis der Tag anbricht.
    Am frühen Morgen hört er einen Stock höher, in der tschaichana , die Stimme von kaka Sarwar. Er stößt zu dessen Bande, die ihn einlädt, das Frühstück mit ihnen zu teilen. Dann steigt er mit ihnen wieder in die saqichana hinunter.
    Vom Haschisch berauscht, verlässt er das Rauchergeschoss.
    Er hat Angst, nach Hause zu gehen. Er meint, dass sein Zimmer von Geistern

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