Verflucht sei Dostojewski
lässt von seinen Papieren ab und stürzt zur Tür. »Rassul, wohin gehst du?« Rassul bleibt stehen. »Komm rein!« Rassul tritt ein. »Setz dich!«, fordert Razmodin ihn auf und deutet auf ein durchgesessenes Sofa. Er ist nervös, nervöser als heute Morgen. Irgendetwas brodelt in ihm, bedrängt ihn, verurteilt ihn zum Schweigen. Ziemlich lange. So lange, wie es braucht, nach Worten zu suchen – nach Worten, die fähig sind, etwas Schlimmes erträglich zu machen. Rassul spürt es. Er kennt seinen Cousin, er kennt dessen Verlegenheit und Ungeschicklichkeit in schwierigen Momenten. Er lässt ihn nach den Worten suchen. »Rassul, kennst du Kommandeur Rostam?« Rassul senkt den Blick, als wollte er nachdenken, dann schüttelt er den Kopf, um sich nicht zu verraten. Natürlich kennt er ihn. Es muss der sein, der um die Hand von Donia anhält, den seine Mutter in einem ihrer Briefe erwähnt, ohne ihn beim Namen zu nennen. »Er ist aus Mazar gekommen, auf Bitten deiner Mutter. Er ist oben, er wartet im Hotelrestaurant auf dich«, sagt Razmodin und kehrt hinter seinen Schreibtisch zurück. Dann kommt er noch einmal hervor, um loszuwerden, was ihn quält: »Cousin, es gibt schlechte Nachrichten«, und er wartet, wartet darauf, dass Rassul aufsteht und schreit: »Was für schlechte Nachrichten?« Aber nein, Rassul bleibt still, rührt sich nicht, weicht seinem Blick aus. »Rassul?« Rassul schaut hoch. »Dein Vater …« Er ist tot; das weiß er, aber er kann es nicht sagen. Und selbst wenn er es könnte, würde er nichts sagen; er würde mit dem Kopf nicken, wie er es jetzt tut. Das ist alles.
»Er ist … tot!« Endlich bringt Razmodin unter Stottern das Wort heraus. Und Rassul nickt wieder, um ihm zu verstehen zu geben, dass er es wusste. »Du wusstest es?« Rassul formt die Lippen zu einem Ja und senkt wieder den Blick. »Du wusstest es?«, wiederholt Razmodin, wie vor den Kopf geschlagen. »Woher weißt du es? Wer hat es dir gesagt? Wann?«
Muss ich jetzt anfangen zu schreiben, um alles zu erklären, um ihm zu erzählen, dass mich meine Mutter vor einem Monat in einem Brief informiert hat, den sie mir hierher, in dieses Hotel, geschickt hat? Erinnere dich, Razmodin, du selbst hast ihn mir gebracht. Stell dich nicht dumm!
Aber nein, Razmodin stellt sich kein bisschen dumm. Er hat alles verstanden. Er wundert sich nur, warum du ihm nichts gesagt hast. »Er war dein Vater, Cousin!« Entrüstet packt er Rassul am Arm: »Sie haben ihn umgebracht! Wusstest du das auch?« Heutzutage sterben nicht viele eines natürlichen Todes, Razmodin. Du kennst meine Meinung dazu. Also bitte verschone mich mit deinem blödsinnigen Staunen, deiner gespielten Überraschung … Lassen wir es bei unserem Schweigen bewenden, das voll von deinen Vorwürfen und von meiner Verzweiflung ist.
Razmodin mustert ihn. Rassul hat die Augen immer noch auf den Boden gerichtet, nicht aus Angst, sich zu widersprechen, sondern damit sein Cousin nicht merkt, dass er Haschisch geraucht hat.
Er kann es noch so gut verbergen, Razmodin beginnt es doch zu ahnen. Er beugt sich vor, sucht in den dunklen, fliehenden Augen Rassuls nach dem geringsten Zeichen, nach einem kleinen Glanz, der ihm den Zustand seines Cousins bestätigen kann. Er kann nicht glauben, dass Rassul einen solchen Hass auf seinen Vater empfindet.
Nein, es ist nicht einmal Hass, es ist ein viel grausameres Gefühl: Gleichgültigkeit! Und noch schlimmer: Es ist nicht Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz, sondern gegenüber dem Tod seines Vaters.
Nein, so unerbittlich, so unmenschlich kann Rassul nicht sein. Da muss etwas anderes dahinterstecken.
Haschisch! Das ist es: Schaut nur in seine Augen! So rot, so verstört, so erloschen …
»Hast du wieder geraucht?«
Da haben wir’s, es geht wieder los!
Rassul steht auf. Er verlässt den Raum. Die Tür schlägt zu. Razmodin bleibt einen Augenblick allein, ratlos. Dann, als er wieder zu sich kommt, läuft er in den Flur. »Wohin gehst du? Kommandeur Rostam sucht dich.« Was geht ihn das an? Rassul zuckt die Schultern. »Er ist extra aus Mazar-e Scharif gekommen. Er war ein Freund deines Vaters … Er sagt, er wird sich um deine Mutter und deine Schwester kümmern.« Soll er ein anderes Mal wiederkommen. Rassul ist beschäftigt. »Cousin, was ist los mit dir? Du sagst ja gar nichts! Sag mir, was vor sich geht!« Nichts, Razmodin, gar nichts! »Bist du krank?« Nein, schüttelt er den Kopf.
Doch, Rassul, du bist krank, krank an dir
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