Verflucht sei Dostojewski
verharren: den Schwefel des Krieges, den Rauch des Schreckens, die Glut des Hasses … Schmieriger Brandgeruch klebt auf der Haut, dringt in jede Pore ein. Dann besser noch eine von nana Alias Zigaretten rauchen, als diese stickige Luft einzuatmen.
Rassul zündet sich eine Zigarette an. Keine Lust, nach Hause zu gehen oder Suphia zu sehen. Wieder streift er ziellos umher. Verloren.
Und wenn er zu einem Arzt ginge? Jetzt, mit dem Geld von Razmodin, könnte er ihn bezahlen, Medikamente kaufen, essen, rauchen …
An der Kreuzung von Malekazghar fällt sein Blick auf das Schild einer Arztpraxis, das verkündet: » Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde usw .« Er geht hinein. Das Wartezimmer quillt über. Männer und Frauen, ganze Familien. Manche müssen schon die Nacht hier verbracht haben. Es wird gegessen, geraucht, gehustet, geschimpft, gelacht …
Ein junger Mann, der den Patienten am Eingang Wartenummern austeilt, spricht Rassul an: »Man muss früh am Morgen kommen, um sechs, wenn man eine Nummer will.« Als Rassul ihn erstaunt anschaut, beginnt er zu klagen: »Sämtliche Kranken Kabuls kommen hierher. Ganz egal, was sie haben, ein Halsproblem, Hämorrhoiden! Die Krankenhäuser nehmen nur noch die Kriegsverletzten, wenn überhaupt!«
Rassul will schon wieder gehen, als eine Frau auf ihn zukommt und sagt, sie könne ihm ihre Nummer für fünfzig Afghani überlassen, falls sein Fall dringend sei; die Sechsundneunzig, noch neun Personen, »und du wirst sehen, es geht schnell! Dann hätte ich ein wenig Geld, um Milch und Medikamente für mein Kind zu kaufen.« Rassul zögert, dann lässt er sich darauf ein und wartet im Flur, bis er an der Reihe ist. In der Zwischenzeit beobachtet er, wie die Frau noch drei weitere Nummern verkauft!
Die Ironie des Schicksals will, dass der hochbetagte Arzt ein Problem mit den Augen hat! Trotz seiner dicken Brille hat er Mühe, seine Rezepte auszustellen. Er bittet die Kranken, laut zu reden. Hilflos kritzelt Rassul auf einen Rezeptzettel: »Ich habe meine Stimme verloren«, und streckt ihn dem Arzt entgegen. Dieser fordert den jungen Mann gereizt auf, ihm das Papier vorzulesen, dann versteht er. »Seit wann?« Drei Tage, zeigt Rassul mit den Fingern. »Aus welchem Grund?« Schweigen. »Ein physischer Schock?«
…
»Emotional?« Ja, nickt Rassul nach kurzem Zögern. »Dafür gibt es kein Medikament«, sagt der Arzt in ärgerlichem Ton, während er auf die bereits für alle möglichen Krankheiten ausgefüllten Rezepte klopft. »Wenn Sie die Stimme wiederfinden wollen, müssen Sie dieselbe Emotion noch einmal durchleben. Macht hundert Afghani für die Sprechstunde, bitte«, dann ruft er: »Der Nächste!« Bevor der nächste Patient hereinkommt, bezahlt Rassul mit dem ganzen Geld, das ihm geblieben ist, und verlässt wütend die Praxis, um bis zum Einbruch der Dunkelheit weiter durch diese unsichere Stadt zu irren. Dann geht er nach Hause und schläft. Ohne Alptraum.
DEN ALPTRAUM, DEN LEBT er. Und von der Gnade träumt er. Bestimmt hat er darum so wenig Lust, die Augen zu öffnen, das Bett zu verlassen, die schwarze Sonne zu begrüßen, den Schwefel des Krieges zu riechen, nach seiner verlorenen Stimme zu suchen, an sein Verbrechen zu denken … Er schmiegt sich noch ein bisschen tiefer unter die Decke. Augen zu. Tür zu. Lange. Nichts reißt ihn aus diesem Zustand der Lähmung. Nicht die Fliegen, die um seinen Kopf herumschwirren; nicht die beiden Granaten, die auf dem Berg Asmai einschlagen; nicht die verzweifelten Schritte von Razmodin, der die Treppe heraufkommt, hinter der verschlossenen Tür wartet und wieder geht; nicht die Freudenschreie von Yarmohamads Kindern im Hof … Solange die Sonne nicht untergegangen ist, wird er nicht aufstehen.
Aber wegen dieser verfluchten Frau im himmelblauen Tschaderi, die langsam in seinen Schlaf gleitet, wird er aufstehen. Noch immer verhüllt, beginnt sie, Rassul zu streicheln; er versucht, ihren Schleier zu heben. Sie wehrt sich. Aber Rassul lässt nicht locker. Er zerrt an dem vielen Stoff, der ihm ständig durch die Finger rutscht. Die Frau lacht. Sie hält ihm eine Schatulle hin. Es ist kein Schmuck darin, sondern eine kleine, durchsichtige, lebendige Kugel. »Das ist dein Adamsapfel«, sagt die Frau, »willst du ihn?«
Rassul wirft die Schachtel zu Boden, er will ihr Gesicht sehen. Wieder versucht er, ihr den Tschaderi herunterzureißen. Er schafft es nicht. Jetzt ist er selbst verhüllt. Er hat nicht mehr die Kraft, den
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