Verflucht seist du: Kommissar Dühnforts fünfter Fall (German Edition)
Pattextube lag noch unberührt am selben Platz wie vor zwei Tagen. Der Verschluss saß fest. Dühnfort gelang es nicht, ihn zu lösen. Die Tube musste schon längere Zeit eingetrocknet sein. Er griff nach den Arbeitsschuhen und betrachtete sie eingehend, zog die Zungen heraus, tastete ins Innere, drehte sie um und entdeckte schließlich, dass sich am linken Schuh im Bereich der Fußspitze die Sohle ein Stück weit abgelöst hatte. Als er sie zurückklappte, krümelte getrocknete Erde aus dem Profil.
Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch.
Als Stefan Schäfer die Treppe in den Keller hinuntergestiegen war, hatte er nicht vorgehabt, sich zu erschießen. Er wollte den Schuh reparieren. Doch der Kleber war eingetrocknet. Deshalb standen die Wanderschuhe auf dem Boden neben dem Tisch. Sie waren der Ersatz für die kaputten. Schäfer musste sie aus dem Wandschrank im Flur geholt haben. Und dann hatte er in Socken hier sitzend den Entschluss gefasst, sich zu erschießen. Warum genau zu diesem Zeitpunkt?
Der Stuhl knarrte, als Dühnfort aufstand und in den Flur ging. Er fand die Tür sofort wieder, die vorgestern einen Spaltbreit offen gestanden hatte. Wintermäntel und Jacken hingen ordentlich auf Bügeln. Auf den Fachböden darunter standen Wander- und Turnschuhe. Ein Paar fehlte. Weiter hinten, in einer Ecke, lag ein helles Stück Stoff. Dühnfort zog es hervor. Es war ein cremefarbener Schal, der sich seidig anfühlte. Einige dunklere Flecken, wie Wasser, verunstalteten ihn. Doch es konnte kein Wasser sein, das wäre längst getrocknet. Dühnfort rieb den Stoff zwischen den Fingern, die Stellen fühlten sich ölig an und rochen auch so.
Eine Ahnung stieg in ihm auf. Er faltete den Schal zusammen, ging nach oben, suchte nach einem Beutel und verstaute ihn darin.
Wen konnte er fragen? Wer konnte ihm helfen? Wer kannte Stefan Schäfer gut genug, um Dühnfort einen Blick in sein Innerstes werfen zu lassen? Seine Frau natürlich. Und hoffentlich sein Freund, Oliver Pätzold.
Adresse und Telefonnummer hatte Dühnfort sich gestern schon notiert, weil er Pätzold ohnehin fragen wollte, ob Schäfer sich ihm gegenüber zu Sascha und seinem Verdacht geäußert hatte, Daniel sei in diese Rolle geschlüpft.
Nun zog er das Handy hervor, rechnete sich allerdings keine großen Chancen aus, den Oberstudienrat zu erreichen. Ferienzeit. Der Mann war sicher verreist. Doch bereits nach dem dritten Läuten meldete sich Oliver Pätzold.
Dühnfort war sich nicht sicher, ob er bereits von dem Selbstmord wusste. Also tastete er sich im Gespräch vorsichtig voran. Doch am Ende blieb die nackte Wahrheit, auch wenn er noch so sehr versuchte, sie schonend zu übermitteln. Ein Mensch war tot, und in der Regel war diese Nachricht ein Schock.
Pätzold brauchte eine ganze Weile, bis er sich gefangen hatte und Dühnforts Wunsch nach einem Gespräch zustimmte. »Ich bin zu Hause. Sie können jederzeit kommen. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen, Licht ins Dunkel zu bringen, falls ich das kann.«
85
Kurz vor halb zwölf parkte Dühnfort vor einem Altbau in Neuhausen. Im Treppenhaus war es angenehm kühl. Die Stufen knarrten unter seinen Schritten. Pätzold öffnete die Tür. Graumelierte Lockenpracht. Buschige Brauen. Ein gestreiftes Freizeithemd hing über den Bund der Jeans. Die nackten Füße steckten in Gesundheitslatschen. Er bat Dühnfort herein und führte ihn ins Wohnzimmer. Vier Wände voller Regale, die bis unter die Decke reichten und nur die Öffnungen für Tür, Fenster und einen an die Wand gerückten Schreibtisch freiließen. Die Fachböden bogen sich unter der Last der in Doppelreihen stehenden Bücher. Es mussten Tausende sein. In der Mitte des Raums standen sich zwei alte Sofas gegenüber, dazwischen ein Couchtisch, der unter einem Berg von Zeitschriften und Büchern begraben war. Pätzold bot Dühnfort Platz an und wartete, bis sein Gast sich gesetzt hatte, bevor er sich auf die Couch gegenüber fallen ließ.
»Stefan hat sich erschossen, sagen Sie. Eine ungeheuerliche Nachricht.« Pätzolds Hand fuhr hoch zu den Brauen, begann Haare zu zwirbeln. »Wie geht es Marlis?«
»Sie hatte einen Zusammenbruch und befindet sich zurzeit in der Psychiatrie. Wenn ich richtig informiert bin, wird sie morgen entlassen. Sie scheint eine starke Frau zu sein.«
»Ja, das ist sie.« Pätzold gab das Zwirbeln auf und ließ die Hand sinken. »Warum hat Stefan das getan, und wie kann ich Ihnen helfen? Gibt es etwa den Verdacht, dass er es
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