Verfolgt im Mondlicht
Hannahs Sorge um Holiday ließ sie innehalten. Kylie holte ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der einzigen Person, die ihr jetzt helfen konnte.
»Geht es dir gut?« Derek war gleich nach dem ersten Klingeln ans Telefon gegangen.
»Ich hab nicht viel Zeit, aber du musst mir einen Gefallen tun. Geh und schau nach Holiday. Bleib bei ihr. Du darfst sie nicht wecken und ihr nicht sagen, dass du sie bewachst. Aber geh da nicht weg, bis ich dort bin.«
»Scheiße! Was passiert gerade, Kylie?«
»Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Bitte, geh einfach und tu, was ich gesagt hab.«
»Wo bist du?«, fragte er. »Ich weiß, dass du nicht in deiner Hütte bist.«
Sie biss sich so fest auf die Lippe, dass sie Blut schmeckte. »Bitte«, flehte sie voller Verzweiflung.
»Holiday ist in Sicherheit. Burnett bewacht ihre Hütte.«
»Warum? Woher weißt du das? Ist was passiert?«
»Nein. Ich hab gespürt, dass irgendwas bei dir los ist, und deshalb wollte ich bei dir vorbeischauen. Als ich an Holidays Hütte vorbeigekommen bin, stand Burnett davor. Er meinte, dass er bei dem, was wir von Hannah und den anderen Mädchen wissen, kein Risiko eingehen will.«
»Das ist gut.« Sie fragte sich, ob Burnett deshalb Lucas geschickt hatte und nicht selbst nach dem Alarm geschaut hatte.
»Ich kann spüren, dass du total Angst hast, Kylie. Sag mir …«
»Ich muss gehen.« Sie klappte ihr Handy zu. Dann warf sie einen Blick auf die Geister, die von einem Fuß auf den anderen traten, so dass sie aussahen wie hungrige Zombies, die auf den richtigen Moment zum Angriff warten. Kylie schob den Gedanken schnell beiseite und sagte sich, dass das ganz normale Leute waren. Verlorene Seelen, die ihres Lebens beraubt worden und jetzt durch unglückliche Umstände an diese Welt gekettet waren.
Kylie sah sich in der Runde um und fragte: »Ist sonst noch jemand hier?«
»Ich bin hier«, antwortete einer der Geister.
»Ich bin hier.« Einer nach dem anderen stimmten die Toten ein, bis es wie Donner in Kylies Ohren grollte. Alle wollten zur Kenntnis genommen werden. Alle wollten anerkannt werden.
Kylie empfand Mitleid mit ihnen. »Ist hier noch jemand Lebendiges außer mir?«
»Niemand, der uns sehen kann«, meinte eine verzweifelte Stimme.
»Also, ist noch jemand hier?« Sie fragte sich zum wiederholten Mal, wieso ihr Großvater ausgerechnet den Friedhof als Treffpunkt gewählt hatte.
»Da ganz hinten«, antwortete der Geist eines jungen Mädchens und zeigte auf die dunkelste Ecke des Friedhofs. »Ich hab sie unter einer Eiche gesehen, wie sie sich im Schatten versteckt haben.«
»Danke.« Kylie schaute noch ein letztes Mal zum Himmel und betete, dort keinen wütenden Gestaltwandler kreisen zu sehen. Die Wolken mussten sich vor den Mond geschoben haben, denn kein blasser Schein erhellte ihren Weg. Mit jedem Schritt hoffte sie mehr, dass in der hintersten, dunkelsten Ecke des Friedhofs ihr Großvater unter einem Baum auf sie wartete.
22. Kapitel
Der hintere Teil des Friedhofs war gespenstisch still. Hier standen noch mehr Statuen, die über die Gräber wachten. Die meisten waren mit Efeu bewachsen, einige waren schon alt und verwittert, anderen fehlte der Kopf. Trotzdem hatte Kylie das Gefühl, beobachtet zu werden, während ihre Schritte knirschende Geräusche auf dem Kiesweg verursachten. Sie fühlte sich plötzlich seltsam allein und stellte überrascht fest, dass die Geisterkälte verschwunden war. Sie war wirklich allein.
Die Geister waren ihr nicht gefolgt. Aber wieso nicht? Angst kroch in ihr hoch. Wussten sie etwas, das sie nicht wusste? Obwohl sie am liebsten weggelaufen wäre, trieb sie sich weiter an und betete, dass sie das Richtige tat.
Sie sah die Bäume vor sich; unter der Laube aus gekrümmten Ästen herrschte tiefste Dunkelheit – schwarze Schatten, die alles und jeden verbergen konnten.
Sie hörte ihren eigenen, keuchenden Atem, und in der Ferne rief ein Vogel, als wollte er sie warnen. Ein paar Schritte vor den Bäumen blieb sie stehen. Die schweren Äste schienen nach den Grabsteinen unter ihnen zu greifen.
»Hallo?« Ihre Stimme wurde von der Dunkelheit verschluckt.
»Du bist gekommen«, antwortete eine tiefe, ernste Stimme.
Kylie hielt die Luft an und sah, wie sich eine Person aus den Schatten löste. Malcolm Summers, ihr Großvater. Er sah jünger aus als beim letzten Mal im Camp. Offensichtlich hatte er sich verkleidet, um die Rolle des Mr Brighten zu spielen. Sie erinnerte sich
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