Verfolgt
Ich sehe schon vor mir, wie ich Tyson mitnehme und Mutter feierlich seine Leine überreiche.
Hallo, Mom. Ich hab hier ein Geschenk für dich, das du bestimmt nicht auf dem Flohmarkt verkloppen willst.
Ich sitze abwartend da. Jetzt könnte Kos Tyson doch holen. Aber er sieht mich nur stumm an.
»Kann ich den Hund wiederhaben?«, frage ich nach einer Weile.
»Nein.«
»Aha.« Wie jetzt? Will er mich auf den Arm nehmen? »Und warum nicht?«
Kos geht zum Fenster und schaut hinaus, dann dreht er sich wieder zu mir um.
»Ist jetzt mein Hund.« Auf einmal finde ich ihn gar nicht mehr so nett.
»Pass mal auf, Kos!«, sage ich energisch. »Der Hund gehört meiner Mutter und sie möchte ihn wiederhaben. Sie ist sehr traurig, dass er weg ist.«
»Pah!«, macht Kos. »Hund weint ganzen Tag, wenn bei deiner Mutter ist. Ich hören.« Er schlägt mit der flachen Hand gegen die Wand und ich fahre zusammen. »Jetzt er tanzen. Komm gucken.« Kos legt die Lippen an ein Loch in der Fensterscheibe, holt tief Luft und stößt einen lang gezogenen, hohen, hauchigen Pfiff aus. »Komm!«, sagt er und winkt mich heran. Ich rutsche von meinem Schrank |155| und gehe vorsichtig über die Dielen zu ihm ans Fenster. Aber ich sehe nichts, weil die Scheibe total verdreckt ist.
»Hier!« Kos zeigt mir ein halbmondförmiges Loch in der Scheibe. Ich stelle mich davor. Jetzt stehen wir ganz dicht nebeneinander. Durch das Loch sieht man in einen verwilderten Hof. Die Mauer um den Hof ist verfallen, am hinteren Ende gibt es ein breites, offenes Tor.
»Was soll ich denn gucken?«, erkundige ich mich mürrisch. Ich bin immer noch nicht drüber weg, dass er einfach »Nein« gesagt hat. In einem Winkel des Hofes regt sich etwas. Ein kleiner Spaniel zwängt sich durch eine Lücke in der Mauer und springt mitten in den Hof. Dort legt er sich ins Gras, als ob er auf jemanden wartet. Noch ein Hund, ein Terrier diesmal, schlüpft durch die Lücke und legt sich neben den Spaniel. Ein Collie kommt durch das Tor gestürmt und setzt sich als Nächster in die Reihe. Es ist einer der Hunde, die mich neulich fressen wollten. Ich erkenne ihn auf den ersten Blick.
»Ist das auch dein Hund, Kos?«
Kos fasst mich am Arm. »Ihm tut leid.«
»Pfff«, mache ich und starre weiter in den Hof, denn jetzt springen das Monstervieh von neulich und ein Schäferhund über die halb eingestürzte Mauer und gesellen sich zu den anderen Tieren.
»Hast du die alle entführt?«, frage ich, auch wenn ich die Antwort schon kenne.
»Nein. Sie selber wollen weg. Hunde traurig. Ganzen |156| Tag eingesperrt. Böse Menschen. Bei mir Hunde wieder froh.«
Ich kenne mich mit Hunden nicht besonders gut aus, jedenfalls war mir noch nicht klar, dass sie manchmal von zu Hause abhauen wie trotzige Teenager. Da kommt der nächste Hund mit großen Sätzen in den Hof gesprungen und ich muss mich am Fensterrahmen festhalten. Es ist Tyson. Er hat total abgenommen, dafür wirkt er so munter, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Er legt sich zu seinen Artgenossen und klopft mit dem Schwanz auf den Boden. Die ganze Reihe Hunde sieht aus, als wartete sie auf einen Befehl.
»Du solltest zum Zirkus gehen«, sage ich und Kos sieht mich ganz komisch an. Habe ich da etwa einen wunden Punkt getroffen?
Kos pfeift wieder, diesmal eine Folge kurzer, abgehackter Pfiffe. Ich schaue ungläubig zu, wie die Hunde einer nach dem anderen aufspringen, ein Stück vorlaufen und sich wieder hinlegen.
»Hast du den Viechern eine Gehirnwäsche verpasst?«, frage ich und meine es nicht nur als Scherz.
Kos grinst. »Mein Vater, er kennt aus mit Hunden. Dressiert Hunde. Ich kann auch.«
»Warum lebst du hier mit ihnen zusammen?«
Kos sieht auf seine Hunde hinunter, die sich inzwischen spielend, schnüffelnd und scharrend über den Hof verteilt haben.
»Sind meine Freunde«, erwidert er leise. »Besssch… |157| Beschützen mich.« Er sieht wieder mich an. »Meine Brüder. Ich mag Hunde, Hunde mögen mich.«
Das ist ja alles ganz spannend und ich bin durchaus beeindruckt, obwohl ich mir bekanntlich nichts aus Hunden mache, aber jetzt, wo ich Tyson wiedergefunden habe, gedenke ich nicht, ihn einfach hierzulassen, ganz gleich, was Kos dazu sagt.
»Tyson!«, rufe ich aus dem Fenster. Tyson blickt auf und legt den Kopf schief.
»Ich muss ihn mitnehmen«, sage ich.
Kos zuckt die Achseln. »Er nicht will mit.«
»Das werden wir ja sehen.«
Kos hält mich nicht auf. Er kommt aber hinter mir her nach unten und zeigt mir
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