Verfolgt
seine Blutsbrüder – draußen vor der Tür geblieben ist. Hier drinnen können sie mir nichts tun. Und ich muss Kos helfen. Sonst kann ich nie mehr in den Spiegel sehen. Ich muss weiter, auch wenn ich mir geschworen hatte, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Ich leuchte mit der Taschenlampe vor mich. Ich stehe in einem niedrigen Flur. Der Fußboden sieht zwar solide aus, aber ich halte mich trotzdem immer an der Wand und trete nicht gleich richtig auf. Auf dem Boden liegt lauter Schutt: Glasscherben, Holzstücke, Deckenputz und Müll. Es riecht feucht und muffig. Am Ende des Flurs ist wieder eine offene Tür. Auf einmal habe ich ein Déjà-vu. Als hätte ich das alles schon |277| einmal erlebt. Als könnte ich mich daran erinnern, aber vielleicht habe ich es auch nur im Traum gesehen. In einem Albtraum. Ich sehe mich von oben: eine kleine Gestalt, die an der Wand entlang durch den Schutt stapft, etwas Unaussprechlichem entgegen.
Mit tastenden Schritten nähere ich mich der Tür. Dahinter ist es so stockfinster, dass ich mit vorgestreckten Händen weitergehe. Meine Taschenlampe scheint nichts gegen die Dunkelheit auszurichten. Trotzdem spüre ich, dass ich in einen großen, hohen Raum trete. Durch ein Bogenfenster flutet Mondlicht herein. Kaputte Holztische sind in einer Ecke aufgestapelt, es riecht schwach nach Rauch. An den schwarzen Deckenbalken sind riesige Haken befestigt, darunter steht ein klotziger Ofen, der mit Plastikbehältern vollgestellt ist. Wo soll ich jetzt hin? Ich scheine in einer Sackgasse gelandet zu sein. Da ächzt es wieder, näher inzwischen, aber immer noch gedämpft. Ich entdecke einen Durchgang, der mir auf den ersten Blick nicht aufgefallen war, und als ich näher komme, erkenne ich eine Treppe. Die Treppe führt nach unten. Die Stufen sind voller dunkler Flecken. Ich will da nicht runter! In diesem Saal ist es wenigstens hell! Ich fürchte mich hier längst nicht so sehr wie bei der Vorstellung, was ich dort unten womöglich vorfinde. Aus Versehen stoße ich mit dem Ellbogen eine Eisenstange um, die an der Wand lehnt. Es scheppert so laut, dass der ganze Raum widerhallt. Dann wird es wieder still. Es kommt mir vor, als hielte das ganze Haus lauschend den Atem an. Ich stehe da und |278| kriege eine Gänsehaut. Ich atme so leise, dass ich mich selber nicht höre. Als ich mich wieder berappelt habe, leuchte ich mit der Taschenlampe die Treppe hinunter. Die Stufen wirken vertrauenerweckend. Als ich probehalber auf die oberste trete, gibt sie nicht nach. Hoffentlich ist der Keller hier nicht auch mit Wasser vollgelaufen wie drüben auf der anderen Seite des Gebäudes.
Schritt für Schritt gehe ich die Treppe hinunter. Ich verbiete mir nachzudenken, ich setze einfach einen Fuß vor den anderen. Die Treppe ist nicht lang und bald stehe ich im vordersten einer ganzen Reihe von Kellerräumen. Es schaudert mich ein bisschen, weil die gemauerten Durchgänge aussehen wie der Eingang zu dem Keller, in dem ich beinahe ertrunken wäre, aber diesmal stehe ich auf trockenem Boden.
Der Lichtkegel meiner Taschenlampe huscht über lauter Metallkästen, die nebeneinander an den Wänden hängen. Mitten im Raum steht ein großer Tisch. Ein Luftzug streift mein Gesicht und ich stelle fest, dass eine Wand teilweise eingestürzt ist und das Gras von draußen hereinwächst. Im Fall der Fälle wäre das immerhin ein Notausgang. Ich betrete den nächsten Keller: alte Stühle und Kisten, kaputte Eimer und aufgestapelte Ziegelsteine. In der Wand sind hoch oben Gitterroste eingelassen, durch die man nach draußen sehen kann. Ganz hinten in der Ecke liegt ein Bündel alter Kleider. Zaghaft trete ich näher.
Das Bündel krümmt sich, streckt die Arme aus, kratzt |279| mit den Fingernägeln auf dem Boden. Er wirft den Kopf hin und her. Er merkt nicht, dass ich hier bin.
»Kos!«
Ich laufe zu ihm.
»Lexi, Lexi – hilf Kos!«, stöhnt er. Halb liegt er, halb sitzt er, lehnt zwischen zwei großen Waschmaschinen mit dem Rücken an der Wand. Unter ihm hat sich eine Blutlache ausgebreitet. Ich bücke mich und lege ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Ist ja gut, ich helfe dir«, sage ich leise. Er nimmt alle Kraft zusammen und will sich gerade hinsetzen, keucht dabei aber vor Schmerzen. Er zeigt auf sein Bein, dann lässt er sich wieder gegen die Wand fallen. »Lexi!«, sagt er wieder und gräbt mir die Finger so fest in den Arm, dass es wehtut. »Lexi.« Er stinkt nach Blut und Schweiß. Ich zwinge mich,
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