Verführer der Nacht
streckte eine Hand aus und zog ihm den Hut mit einer liebevollen Geste, die ihn trösten sollte, tiefer in die Stirn. »Aber du magst sie«, beendete sie für ihn den Satz. »Ich glaube eigentlich auch nicht, dass Juan den Stier getötet hat, Paul. Es wäre unsinnig, einen Stier abzuschlachten, ihn ins Wasserloch zu zerren und ihn dann zufällig zu finden, sodass wir ihn da wieder rausholen können. Das Tier müsste eine ganze Weile im Wasser liegen, um es zu verseuchen. Meiner Meinung nach war genau das beabsichtigt, und Juan ist unerwartet dazwischengekommen.«
»Aber er könnte es getan haben.«
Colby seufzte. »Vielleicht. Hast du nach Spuren gesucht? Hast du dir seine Kleidung angeschaut? Sein Messer?«
Paul errötete leicht. »Das hätte ich tun sollen. Er hat den Stier nicht im Wasser gelassen, sondern den Kadaver herausgezogen, bevor er zu mir kam.« Paul mochte seine Onkel tatsächlich, alle beide. Sie arbeiteten hart und verstanden etwas von der Arbeit auf einer Ranch. Außerdem behandelten sie ihn wie einen Gleichrangigen, und sie erinnerten ihn an seinen Vater. Paul entwickelte allmählich Zuneigung und sehr viel Respekt für die beiden, und er wollte, dass sie dasselbe für ihn empfanden. Er hatte weder nach Indizien noch nach Spuren gesucht, weil ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, einer seiner Onkel könnte etwas damit zu tun haben. Aber jetzt war er verunsichert.
Colby nickte. »Wir beide hätten den Kadaver auch sofort aus dem Wasser gezogen. Das können wir ihm nicht zum Vorwurf machen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin sehr beunruhigt; irgendjemand versucht eindeutig, uns ernsthaft zu schaden. Und wir kommen ohnehin nur knapp über die Runden.« Sie schaute sich um, um sicherzugehen, dass Ginny nicht in der Nähe war, und senkte ihre Stimme. »Du bist kein kleines Kind mehr, Paul. Ich weiß nicht, wem wir trauen können und vor wem wir Angst haben sollten. Jemand hat Pete ermordet. Es war kein Unfall. Er hatte kein Geld bei sich, es gab also keinen Grund, ihn auszurauben. Jemand hat unseren Stall in Brand gesteckt, und jetzt wurde einer unserer Stiere getötet und absichtlich in die Wasserstelle gelegt, um sie zu verseuchen.«
»Was hat Ren gesagt?« Paul nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.
»Ich habe ihn natürlich angerufen. Er müsste jeden Moment hier sein. Und die Everetts kommen wegen der Reitstunde.« Als Paul grinste, warf Colby ihm einen strengen Blick zu. »Ich erwarte von dir, dass du dich benimmst. Das bedeutet Ginny sehr viel. Sie wünscht sich sehnlichst eine Freundin.
Wir beide vergessen leicht, wie schwer es für sie ist. Du kannst deine Freunde besuchen, doch sie sitzt hier draußen fest.«
Paul kickte einen Stein weg. »Ja, klar, ich besuche ja auch ständig irgendwelche Freunde! Ich arbeite von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, Colby. Hast du das vergessen?«
»Nein. Das weiß ich.« Colby, die mit den Tränen kämpfte, wandte den Blick ab. Sie konnte sich nicht an einen einzigen Tag in den letzten fünf Jahren erinnern, an dem sie nicht von morgens bis abends und manchmal sogar nachts gearbeitet hätte. »Was hat der Tierarzt zu den Pferden gesagt?«
»Dass du deine Sache großartig gemacht hast. Du und De La Cruz. Wir sollen gut auf Infektionen achten. Zurückbleiben werden keine äußeren, sondern vor allem innere Narben. Die Pferde sind traumatisiert und brauchen Betreuung.« Er sah sie an. »Das ist dein Job, Colby. Du bist es, die fantastisch mit Pferden umgehen kann. Ist dir eigentlich aufgefallen, wie sie auf De La Cruz reagiert haben? Sie waren in seiner Nähe ganz ruhig, und er schien wirklich zu wissen, was zu tun war. Übrigens, sein Anwalt hat angerufen.« Seine Stimme klang jetzt betont beiläufig, und er versuchte, nicht darauf zu achten, wie Colby erstarrte. »Er hat die Papiere für ein Darlehen aufgesetzt und wird sie uns über Sean Everett zukommen lassen, damit wir uns alles genau anschauen können. De La Cruz will später am Abend auch noch vorbeikommen.«
»Wahrscheinlich amüsiert er sich gerade mit der schicken Blondine, die ihm so gut gefiel«, bemerkte Colby. Sie durfte bei Rafael nicht die Realität aus den Augen verlieren. Er war ein Weiberheld. Er hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie nie zuvor erlebt hatte, und ihr nachts in ihrem Bett zärtliche Dinge ins Ohr geflüstert, doch das bedeutete nicht, dass er nicht dasselbe bei anderen Frauen machte. Colby war ziemlich sicher, eines Morgens von all den
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