Verführer oder Gentleman? (German Edition)
den Schwänzen und ließen die Zungen aus hechelnden Mäulern hängen.
An dieser wunderbaren Szenerie konnte Juliet sich gar nicht sattsehen. Plötzlich fühlte sie sich wie ein vergoldeter Vogel, der für ein paar kostbare Stunden seinem Käfig entronnen war. Zusammen mit Dolly trug sie den Korb in den Schatten einer Hecke. Dort warfen ihnen mehrere Dienstboten aus Lansdowne House, die bereits andere Körbe auspackten, nur flüchtige Blicke zu.
Als der Korb mit dem Kuchen im Gras stand, schaute Juliet zu den bereits abgeernteten Feldern hinüber, wo die Getreidestiegen wie kleine Kathedralen emporragten und sich auf goldgelben Stoppeln aneinanderreihten.
Dann kniete sie nieder und half Dolly, den Korb zu leeren. Sie mochte das junge Mädchen, das sich bemühte, ihr das Leben in Lansdowne House zu erleichtern, und stets unbefangen mit ihr plauderte.
Lächelnd blickte Dolly auf. „Von Ihnen habe ich diese Arbeit nicht erwartet, Miss. So etwas müssen Sie nicht tun.“
„Ja, das weiß ich. Aber ich mache es gern. Außerdem ist das mein freier Tag, den ich nicht allein verbringen möchte. Hier gefällt es mir besser. Wer sind all diese Leute? Woher kommen sie?“
„Aus dem Dorf und den umliegenden Weilern. Manche Gelegenheitsarbeiter werden tageweise bezahlt, andere wöchentlich. Und sie müssen sich ganz gewaltig anstrengen. Das ist harte Knochenarbeit. Allzu viele Ruhepausen dürfen sie sich nicht leisten. Wenn sie in der Hitze des Tages zu lange rasten, werden sie die vorgegebene Menge des geschnittenen, gebündelten Weizens nicht erzielen. Und falls ein starker Regen das Getreide flach drückt, wird die Ernte erschwert. Deshalb beeilen sich die Leute, um das Pensum beizeiten zu erledigen.“ Dolly blinzelte in die Sonne. „Bald werden sie eine Pause einlegen. Da drüben ist der Duke.“ Sie zeigte auf ihren Herrn. „Wie fabelhaft er aussieht, nicht wahr?“
„O ja …“
„Wenn er in London residiert, reißen sich alle Damen um ihn“, fuhr Dolly beiläufig fort. „Und das nutzt er aus. Aber er kommt niemals mit einer Frau hierher. Und er macht sich auch nicht an das weibliche Personal ran. So verantwortungsvoll und gewissenhaft erfüllt er seine Pflichten. Alle Leute, die für ihn arbeiten, behandelt er gerecht und großzügig. Überall wird er verehrt und bewundert.“
„Sie stellen den Duke in einem äußerst günstigen Licht dar, Dolly. In London präsentiert er sich ganz anders.“
Gleichmütig zuckte das Mädchen die Achseln. „In der Stadt kann er tun und lassen, was er will. Für uns kommt es nur drauf an, wie er sich hier verhält. Man muss die Leute so nehmen, wie sie sind. Das sage ich immer wieder. Klar, seine Freunde sind ziemlich ungebärdig. Und in der Jagdsaison bringt der Duke das ganze Haus durcheinander, wenn er alle Gentlemen von nah und fern einlädt. Da regt sich der arme alte Pearce immer schrecklich auf, und Mrs Reed weiß nie, wie viele Leute sie verköstigen soll. Übrigens, vor diesem Sir Charles Sedgwick muss man sich in Acht nehmen. Haben Sie ihn schon kennengelernt, Miss?“
„Ja, bei meiner Ankunft“, erklärte Juliet.
„Er umgarnt die Damen ungemein charmant. Hüten Sie sich vor ihm!“, mahnte Dolly, unterbrach ihre Arbeit und warf Juliet einen strengen Blick zu. „Er weiß ganz genau, wie man einer Frau den Kopf verdreht.“
„Nun, er sieht sehr gut aus.“
„Wie alle diese Gentlemen. Deshalb sind sie ja so gefährlich. Kaum lässt man sich betören, kann alles Mögliche passieren. Ehe man weiß, wie einem geschieht, ist man in anderen Umständen. Jetzt hat Miss Geraldine Howard ihre Netze nach ihm ausgeworfen. Aber das hindert ihn keineswegs daran, sein Vergnügen woanders zu suchen, wenn er ein hübsches Gesicht sieht. Wann immer er Lansdowne House besucht, geraten die Dienstmädchen in Aufruhr.“
„Keine Bange, Dolly“, erwiderte Juliet und lachte leise. „Ich werde mir Ihre Warnung merken. Allerdings bin ich vernünftig genug, wenn es um Herzensangelegenheiten geht, und ich stehe mit beiden Beinen fest auf der Erde.“
Nachdenklich schaute sie zu Lord Lansdowne hinüber und entsann sich, was Dolly über ihn gesagt hatte.
Beurteile ich ihn falsch?, überlegte Juliet. Verwandelte sich der Wüstling, der in London sein Unwesen trieb, in einen ernsthaften, ehrbaren Mann, sobald er seinen Landsitz aufsuchte? Um ihn auf gerechte Weise einzuschätzen – nach allem, was sie bisher beobachtet hatte, benahm er sich untadelig, so wie es der Würde
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