Verführer oder Gentleman? (German Edition)
Thomas. „Aber Geraldine wird langsam nervös. In letzter Zeit scheint er uns aus dem Weg zu gehen.“ Boshaft grinste er Juliet an. „Entweder schwärmt er für einen brünetten Lockenkopf. Oder er hat ganz plötzlich ein brennendes Interesse für Bücher entwickelt.“
Dominic bemühte sich um eine Miene, die nur mildes Amüsement über diese Erklärung für Charles’ häufige Besuche in Lansdowne House ausdrückte. Bedauerlicherweise hatte Thomas recht, zumindest in einem Punkt. Denn der gemeinsame Freund fühlte sich tatsächlich zu Miss Lockwoods Reizen hingezogen.
Gewiss wäre Thomas erstaunt gewesen, hätte er gewusst, dass der Mann, der ihm so seelenruhig zuhörte, innerlich vor Wut kochte.
Was Thomas Howard andeutete, gefiel Juliet ganz und gar nicht. Ihre Wangen röteten sich, teils vor Verlegenheit, teils vor Zorn. „Wenn Sie mit dem ‚brünetten Lockenkopf‘ mich meinen, Sir, so versichere ich Ihnen, Sir Charles wurde in keiner Weise von mir ermutigt.“ Sie fand seine Besuche sogar ziemlich lästig, weil er sie von der Arbeit ablenkte.
„Bald wird Charles’ Interesse erlöschen“, prophezeite Geraldine gehässig, warf hochnäsig ihren Kopf in den Nacken und wandte sich zu Dominic. „Wundervoll, dich immer noch in Lansdowne House anzutreffen! Wir hatten befürchtet, du wärst bereits nach London aufgebrochen. Da fahren wir demnächst hin.“
„Wie du siehst, bin ich immer noch hier. Eigentlich hatte ich vor, in zwei Tagen mein Haus in Mayfair aufzusuchen. Aber wegen gewisser Umstände werde ich wohl noch etwas länger auf dem Land bleiben.“
„Ich verstehe …“ Scheinbar rein zufällig schaute Geraldine zu der geöffneten Vitrine hinüber. „Oh, was um alles in der Welt ist denn mit diesen entzückenden Miniaturen passiert, Dominic?“
„Leider sind sie auf mysteriöse Weise verschwunden. Keine Ahnung, wie oder wann.“
„Glaubst du, sie wurden gestohlen?“
„Sieht so aus.“
„Dann muss es ein Dienstbote gewesen sein“, entschied sie.
„Moment mal!“, mahnte Dominic. „Das ist eine sehr schwerwiegende Beschuldigung, Geraldine. In diesem Haus gab es noch nie einen Diebstahl.“
„Findest du eine andere Erklärung für die verschwundenen Bilder?“
„Aber ich war die ganze Zeit hier“, mischte Juliet sich ein. „Hätte jemand die Vitrine geöffnet, wäre es mir aufgefallen.“
Geraldine starrte sie an. „Waren Sie wirklich immer hier, Miss Lockwood – jede Minute des Tages?“
Unsicher biss Juliet auf ihre Unterlippe. „Nein, nur während der Arbeitsstunden.“
Dominic eilte zum Glockenstrang in der Ecke der Bibliothek. „Dieser Sache werde ich auf den Grund gehen. Ich rede mit Pearce.“
Ehe er läuten konnte, erklang Geraldines schrille Stimme. „Und der Gentleman, der Sie gestern besucht hat, Miss Lockwood?“
Juliet schluckte mühsam. „Robby?“
Die Augen misstrauisch verengt, wandte Dominic sich zu ihr. „Darf ich fragen, wer Robby ist?“
„Mein Bruder.“
„Und er kam gestern in dieses Haus?“
„Ja …“ Über ihren Rücken kroch ein eisiger Schauer. „Das … das hatte ich ganz vergessen.“
„Offensichtlich“, stieß er hervor. „Taucht Ihr Bruder regelmäßig hier auf?“
„Nein, natürlich nicht. Nur dieses eine Mal.“
„Und Sie hielten es für überflüssig, mich darüber zu informieren, Miss Lockwood?“
„Sie waren nicht daheim, Sir. Hoffentlich stört es Sie nicht.“
Plötzlich verflog sein Zorn. Er seufzte, und seine innere Anspannung lockerte sich. „Nein, sicher nicht. Selbstverständlich dürfen Sie in mein Haus einladen, wen immer Sie empfangen möchten.“
Als sie einen verschwörerischen Blick wechselten, lächelte Geraldine boshaft und ging zum Frontalangriff über. „Vielleicht bist du nicht mehr so großzügig, wenn du von der Gefängnisstrafe des Gentleman erfährst. Erst neulich wurde Miss Lockwoods Bruder aus dem Fleet entlassen.“
Die Stille, die den Raum erfüllte, hätte man beinahe mit einem Messer durchschneiden können. Sogar der träge Thomas richtete sich in seinem Sessel auf. Geraldine kannte Dominic Lansdowne seit vielen Jahren. Doch sie hatte ihn noch nie zu Stein erstarren sehen. Konnte er nicht glauben, was er soeben gehört hatte?
„Wirklich, Dominic, ich will mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen“, fügte Geraldine hinzu. „Allerdings – ich würde mich unwohl fühlen, wenn ich dir eine Information vorenthielte, auf die du ein Recht hast.“
Zutiefst
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