Verführerische Maskerade
gekommen?, grübelte Livia. Schließlich war es beinahe Mitternacht. Offenbar hat Alex ihm die ganze Nacht freigegeben, schloss sie, und um diese Uhrzeit würden noch nicht einmal die Posaunen des Letzten Gerichts den alten Butler aus dem Schlaf reißen können. Livia hielt die Pistole noch immer in der Hand, als sie in die Halle eilte. Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung.
»Komme schon!«, rief sie. Die Hunde kläfften, sprangen ihr um die Füße und an der Tür hoch, während sie sich mit dem schweren Bolzen mühte, bis sie die Tür schließlich aufzog. Überrascht und ungläubig starrte sie den Besuch an. Monsieur Tatarinov stand auf der Schwelle.
»Guten Abend, Prinzessin«, übertönte er die kläffenden Hunde, verzichtete auf eine Einladung ins Haus, hob das Bein und machte einen großen Schritt, um angewidert über die Hunde hinweg in die Halle zu treten. »Wo ist Ihr Ehemann? Ich muss ihn dringend sprechen.« Wieder wartete er nicht lange auf eine Einladung und durchquerte die Halle in Richtung Bibliothek. Die Hunde folgten ihm auf dem Fuße.
»Er ist nicht hier.« Livia betrat ebenfalls die Bibliothek und schloss instinktiv die Tür hinter sich. »Heute Nachmittag hat er das Haus verlassen und ist nicht wieder zurückgekehrt«, erklärte sie und bemerkte, wie ihre Stimme zitterte. »Wissen Sie nicht, wo er steckt?«
Tatarinovs Nasenflügel bebten, als er tief einatmete. »Seit heute Nachmittag, sagen Sie?«
»Ja … bitte, ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
Tatarinov antwortete nicht sofort. Stattdessen starrte er auf den Teppich und schlug sich mit der geballten Faust in die Fläche der anderen Hand. »Madame, hat er das Haus allein verlassen?«
»Ich war selbst nicht hier. Aber man hat mir berichtet, dass zwei Männer zu Besuch kamen und dass er kurz darauf mit ihnen zusammen das Haus verlassen hat.« Jetzt war Livia endgültig klar, dass irgendetwas Schreckliches geschehen sein musste. Trotzdem schwand ihre Angst. Denn sie war wild entschlossen, jede Information aus dem unangenehmen Kerl vor ihr herauszupressen, die sie nur bekommen konnte. Und wenn sie noch so klein und unbedeutend schien.
»Männer? Wie viele?«
»Zwei.«
»Russen?«
»Mit Sicherheit Ausländer. Sagen Sie mir, Monsieur, haben die Vorfälle irgendetwas mit der Arbeit zu tun, die mein Mann für sein Land verrichtet?«
Tatarinov riss den Blick vom Teppich los. »Was wissen Sie darüber?«
»Ich weiß, dass mein Mann für den Geheimdienst des Zaren spioniert«, erklärte Livia. »Das hat er mir persönlich anvertraut, weshalb ich offen mit Ihnen sprechen darf.« Sie musterte ihn aufmerksam. Sein Gesichtsausdruck verwirrte sie; er war erschrocken und erleichtert zugleich. »Ich bitte um eine Antwort. Hat das Verschwinden meines Mannes irgendetwas mit seiner Arbeit zu tun?«
»Das fragen Sie ihn am besten selbst«, wies Tatarinov sie zurück und machte einen Schritt zur Tür. »Ich muss jetzt gehen.«
Livia handelte instinktiv. Sie hatte noch immer Angst um Alex. Aber noch mehr fürchtete sie sich davor, nicht zu begreifen, was eigentlich gespielt wurde.
Sie wirbelte herum, schloss die Tür ab und ließ den Schlüssel in ihre Tasche gleiten. Sollte Tatarinov versuchen, sie zu überwältigen, würde er ganz sicher Erfolg haben. Langsam hob sie die Pistole. Zwar hatte sie keine Ahnung, ob sie geladen war oder nicht. Aber sie vermutete, dass Alex wenig Sinn darin sehen würde, eine Waffe zu verstecken, mit der man gegen plötzliche Angriffe nichts ausrichten konnte. Jetzt war klar, dass er sich insgeheim auf solche Ereignisse vorbereitet hatte. Genau wie sie sich jetzt vorbereitete.
Tristan und Isolde sträubte sich das Nackenfell, als sie die bedrohliche Stimmung spürten. Die Hunde knurrten, und Tristan näherte sich mit entblößten Zähnen. Tatarinov musterte ihn mit mörderischem Blick, hob den Stiefel und hatte offenbar vor, den Terrier mit einem Fußtritt beiseite zu fegen.
»Sitz«, kommandierte Livia. Es grenzte an ein Wunder, dass die Tiere sich tatsächlich zurückzogen. Ihre Hand war vollkommen ruhig, als sie mit der Pistole auf Tatarinovs Schulter zielte. Sie hatte nicht die Absicht, ihn zu töten, kalkulierte aber, dass sie auf diese Entfernung durchaus in der Lage war, ihm eine Kugel durch die Schulter zu jagen.
»Was machen Sie da?«, fragte er erstaunt und außer sich vor Wut.
»Ich möchte, dass Sie mir berichten, was hier gespielt wird«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Und zwar in allen Einzelheiten. Ist
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