Verführerische Maskerade
er. Ich glaube ihm.«
Der Reverend schwieg lange und ließ den Blick aus seinen grauen Augen auf ihr ruhen. Plötzlich schüttelte er den Kopf. »Aber ich muss mir wenigstens keine Sorgen mehr machen, dass du genügend Brot auf dem Tisch hast … der russische Adel hat unermessliche Reichtümer aufgehäuft … auf dem Rücken seiner Sklaven … oder der Leibeigenen, wie sie die Menschen nennen.«
Sein Mund verzog sich missbilligend. »Livia, diese mittelalterliche Herrschaft ist einfach abscheulich. Es fällt mir schwer, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass du einen Nutzen daraus ziehst, ganz gleich, wie sehr dein Glück von dieser Heirat abhängt.«
Livia verlor den Mut. Wollte er ihr wirklich den Segen verweigern, nur weil er grundsätzlich Einwände gegen eine Gesellschaft hegte, die schon seit Jahrhunderten existierte? »Alex kann nichts gegen das System ausrichten«, bemerkte sie und war sich darüber klar, wie jämmerlich sie klang.
»Er könnte seine Leibeigenen befreien. Er könnte sie auf seinem Land arbeiten lassen und ihnen einen ausreichenden Lohn zahlen«, verkündete Reverend Lacey und seufzte. »Aber im Grunde genommen muss ich dir zustimmen. Es ist unvernünftig, einem einzigen jungen Mann all das Unrecht vorzuhalten, das seit vielen Generationen verübt wird. Wer weiß, vielleicht wird er die Dinge eines Tages mit meinen Augen betrachten. So soll es sein, meine Liebe. Ich werde Prinz Prokov empfangen, und ich werde all das tun, was ein Vater unter solchen Umständen zu tun verpflichtet ist. Wisst ihr schon, wann ihr heiraten wollt? Ich muss es in meinem Kirchenkalender notieren.«
»Am Samstag vor Weihnachten«, verkündete Livia. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Erleichterung durchflutete sie mit solcher Macht, dass sie jetzt erst bemerkte, wie ängstlich sie dem Gespräch entgegengesehen hatte. Es war gleichgültig, ob ihr Vater ihren Bräutigam nach der ersten Begegnung schätzen würde oder nicht. Denn auf keinen Fall würde er ihr seine Zustimmung oder gar seinen Segen verweigern.
»Also am Samstag vor Weihnachten. So soll es sein.« Reverend Lacey kam zu ihr, strich ihr mit der Fingerspitze über das Kinn und küsste sie auf die Wange. »Du wirst eine wundervolle Braut sein, meine Liebe. Erinnere mich daran, dass ich dir den Schmuck deiner Mutter schenke. Es finden sich ein paar kostbare Perlen darunter. Zu deinem Haar und zu deinem Teint werden sie sehr schön aussehen.«
Zwei Tage später war Alex auf dem Weg zu den Stallungen, um sein Pferd für den Ritt nach Hampshire zu holen. Plötzlich bemerkte er, dass er verfolgt wurde, obwohl er auf Anhieb keinen Verdächtigen hinter sich oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachten konnte. Trotzdem befand er sich im Alarmzustand. Denn seine Erfahrung in der Armee hatte ihn gelehrt, unbedingt seinen Instinkten zu trauen, wenn er Gefahr witterte.
Er verlangsamte seinen Schritt, blieb sogar stehen, um sich einen Fussel vom Ärmel zu streifen, und schaute sich verstohlen um. Der Mann gegenüber war ebenfalls stehen geblieben. Fasziniert betrachtete er die Fassade des Herrenhauses vor sich. Alex wusste, dass er nicht mehr allein war, als er seinen Weg fortsetzte und auf die Schritte hinter sich lauschte. Auch der Mann gegenüber schlenderte weiter und schwang eifrig seinen Spazierstock. Die Spione observierten ihn jetzt seit über einer Woche; es machte den Eindruck, als würden sie sich an seine Fersen heften, sobald er das Haus verließ.
In wessen Diensten standen sie? Waren es Agenten des englischen Geheimdienstes? War er wegen der politischen Zwistigkeiten zwischen England und Russland in Verdacht geraten? Dabei hätte er schwören können, dass er seit seiner Ankunft keinen falschen Schritt gemacht hatte. Weder er noch die anderen. Nicolai gab den charmanten Wüstling, und er spielte die Rolle perfekt … was ihm ausgesprochen leicht fiel, denn sie war ihm gewissermaßen auf den Leib geschrieben. Aus dem gleichen Grund kam Fedorovsky mit seiner Rolle als zerstreuter Wissenschaftler wunderbar zurecht. Das galt auch für den Rest der kleinen Gruppe russischer Revolutionäre, die sich in der Stadt versammelt hatten. Nur Tatarinov war nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt. Aber er bewegte sich auch nicht in denselben Kreisen. Soweit Alex informiert war, lebte er sehr zurückgezogen.
Alex beschleunigte seinen Schritt in Richtung der Stallungen. Aber anstatt sein Pferd abzuholen, bog er in eine kleine Gasse ein, in der
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