Verfuehrt
Robert hat gar nicht erwähnt, dass Sie ebenfalls hier sind«, sagt sie und wirft ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu, der sich für seine Nachlässigkeit prompt entschuldigt. »Bleiben Sie auch über Nacht?« Das scheint ihr gar nicht zu gefallen, doch da es nicht zu ändern ist, arrangiert sie sich schnell damit, indem sie mich einfach konsequent ignoriert.
Und zu meinem großen Leidwesen tut Matteo das auch. Er ignoriert mich. Komplett. Er sitzt zwar neben mir am Tisch, als die Haushälterin, die Lord Ashbury mit Mary anspricht, zusammen mit einer jüngeren Hausangestellten wenig später das Essen serviert, doch er redet eigentlich die ganze Zeit nur mit Lord Ashbury – oder flirtet mit der schönen Becca, die erneut nur Augen für ihn hat. Mich dagegen beachtet er kaum, bindet mich eigentlich nur in das Gespräch mit ein, um mich höflich zu fragen, ob ich noch etwas Brot zu meiner Suppe möchte, die es als Vorspeise gibt, oder ob ich meine Kartoffeln beim Hauptgang noch etwas nachsalzen will.
Und dabei waren wir uns vorhin ziemlich nah, denke ich und stochere frustriert in dem Hirschgulasch herum, das bestimmt köstlich schmeckt, das ich aber nicht herunterkriege, weil meine Kehle so eng ist. Was hat Matteo vorhin gesagt – dass wir das nicht tun sollten? Aber wieso küsst er mich, wenn er das gar nicht will? Und warum flirtet er jetzt mit dieser schrecklichen Rebecca und hat für mich nur noch ein paar höfliche Worte übrig? Ich verstehe das einfach nicht, und ich würde nur zu gerne gehen. Doch der Sturm tobt immer noch über dem Haus und scheint in seiner Intensität eher zu- als abzunehmen. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter dem Gespräch zuzuhören und mir anzusehen, wie Rebecca Ashbury an jedem Wort von Matteo hängt. Sie stellt ihm tausend Fragen, über seine Mutter, die sie anscheinend auch kennt, über den internationalen Baukonzern seines Stiefvaters, das Design-Unternehmen seiner Familie und über die Stiftung, die er gegründet hat und die junge Künstler in ganz Europa fördert.
Ich versuche, die unangenehme Situation auszublenden und mich nur auf das Dessert – einen leckeren Trifle – zu konzentrieren, aber diese Frage von Rebecca Ashbury dringt doch zu mir durch: »Harriet sagte, Sie hätten vor, die Aktivitäten Ihrer Stiftung in London noch weiter auszubauen – ist das wahr?«
Überrascht schaue ich auf und sehe Matteo an. Heißt das …?
»Ja, wir denken darüber nach«, bestätigt er. »Abgesehen vom Hauptsitz in Rom haben wir im letzten Jahr auch noch Büros in Berlin, Paris und Madrid gegründet, um unsere internationale Arbeit besser koordinieren zu können. London fehlt da noch, deshalb planen wir, hier ebenfalls eins zu eröffnen.«
»Dann sind Sie demnächst ja vielleicht öfter in London.« Rebecca Ashbury kann ihre Begeisterung darüber kaum verhehlen.
»Möglicherweise«, erwidert Matteo und blickt jetzt doch kurz zu mir. Es reicht nicht, um den Ausdruck in seinen Augen zu deuten, aber schon, um meinen Herzschlag zu beschleunigen.
Plötzlich ist mir das alles zu viel, und ich wünschte, das Essen wäre zu Ende, weil ich es langsam einfach nicht mehr ertrage. Ich habe es satt, Matteo beim Flirten zuzusehen und mich wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen – und als hätte das da oben jemand gehört, ertönt ein extrem lautes Krachen – viel lauter als die bisherigen Donner, und alle Lampen erlöschen schlagartig, sodass der fünfarmige Kerzenleuchter, der auf dem Tisch steht, auf einmal die einzige Lichtquelle im Raum ist.
»Der Strom kommt gleich wieder, keine Sorge«, erklärt Rebecca Ashbury. Doch der Lärm war offenbar auch ihr unheimlich, denn sie klingt nicht so selbstsicher wie sonst. Und es passiert auch nichts, die Lampen bleiben aus.
»Herrje, warum geht das Licht nicht wieder an?«, fragt sie Minuten später, und in ihrer Stimme schwingt neben Verärgerung jetzt auch ein Anflug von Panik mit. Wie herbeigerufen erscheinen in diesem Moment jedoch der Butler Mallory, gefolgt von Mary und der jüngeren Frau. Sie alle tragen diese altmodischen Kerzenständer mit Griff in der Hand und entzünden auch noch die beiden Leuchter auf der Anrichte, sodass es im Raum deutlich heller wird.
»Es tut mir leid, Sir, aber es sieht so aus, als hätte der Blitz in die Hauptleitung eingeschlagen, und der Kurzschluss könnte auch das Notstromaggregat in Mitleidenschaft gezogen haben«, berichtet Mallory, für seine Verhältnisse ziemlich aufgeregt.
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