Verführt: Roman (German Edition)
aber meine Feinde nennen mich Captain Doom.«
Ihre Realität zersprang wie das Stundenglas ihres Vaters. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Eisiger Schweiß trat ihr auf die Stirn. Die Ohren dröhnten, als hielte man die Gehäuse zweier Meeresschnecken dagegen. Der besänftigende Nebel der Bewusstlosigkeit driftete auf sie zu und versprach ihr den Aufschub einer Wahrheit, die sie weder verändern noch ertragen konnte.
Doch bevor sie sich ergeben konnte, kroch ihr bitter die Seekrankheit in den Magen. Einen entwürdigenden Moment lang glaubte sie, sie müsse sich über Gerards formidable Schaftstiefel ergeben – und wünschte es sich fast.
Dann war er bei ihr, wie er es immer gewesen war, hielt mit gewandtem Griff ihre Schultern und tupfte mit einem feuchten Tuch ihre blutleeren Lippen.
»Hören Sie auf!«, schrie sie und stieß seine Hände fort. Sie ertrug es nicht, dass er sie berührte. Es war der blanke Hohn. Der reinste Gräuel.
Wenigstens hatte er den Anstand, sich ein Stück vom Bett fortzubewegen. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, presste die Handflächen gegen die Schläfen und wartete, dass die aufgewühlten Gefühle und der Magen Ruhe gaben.
»Champagner und Somnorifera sind eine unglückliche Kombination«, sagte er gelassen. »Als ich es aus dem Stall gestohlen habe, hatte ich nicht vor, es bei Ihnen zu verwenden. Es tut mir Leid.«
Lucy erinnerte sich, wie der stickige, weiche Lappen sich auf ihr Gesicht gepresst hatte. Sie hatte den Geruch noch in der Nase und den Geschmack der widerwärtigen Süße des Mohns auf ihrer Zunge.
»Wie bitte?« Durchs Wirrwarr zerzauster Strähnen lugte sie zu ihm auf. »Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre, aber mit Somnorifera betäubt man die Hengste zum Kastrieren .«
Lucy kostete jede Unze des bedrohlichen letzten Wortes aus. Gerards Lippen spannten sich, als würde er am liebsten lächeln, wagte es aber nicht.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Und genau deshalb war es passend, um Smythe zu betäuben, falls er mir in die Quere gekommen wäre. Er ist der einzig mir bekannte Mann, der noch weniger Schlaf braucht als ich.«
»Hatten Sie die Absicht , mich zu entführen, oder war das auch nur eine unglückliche Kombination?«
Er kam einen Schritt näher ans Bett. Dass seine Stimme seidenweich klang, nahm ihr nicht die Schärfe. »Hätte ich die Absicht gehabt, Sie zu entführen, dann hätte ich es längst getan. Der Himmel weiß, Sie haben mir reichlich Gelegenheit geboten.«
Als ihre Blicke sich trafen, erinnerte sich Lucy, was sie ihm sonst noch geboten hatte. Ihr Vertrauen. Ihr Herz. Ihre Unschuld. Entrüstet und voller Selbstverachtung begriff sie, dass sie nichts anderes gewesen war als ein Mittel zum Zweck. Der unglückselige Bauer in einer rätselhaften Schachpartie.
Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie wollte sich vor diesem Mann nicht noch weiter erniedrigen und zwinkerte sie wütend fort. Hätte er die Frechheit besessen, ihr ein Taschentuch anzubieten, sie wäre ihm an die Kehle gesprungen.
»Für welch eine dumme Gans Sie mich gehalten haben müssen! Was müssen Sie gelacht haben über meine kuhäugige Verehrung für Doom und meine absurden Verteidigungsreden!«
Sein ungerührtes Schweigen war vernichtender als jedes Eingeständnis.
Die schiere Größe seines Verrats ließ Lucy nur ein einziges Wort herausbringen: »Warum?«
Er entfernte sich wieder, und die bewusste Distanz trieb den Keil zwischen ihnen beiden noch tiefer hinein. Einmal abgesehen von den Flaggschiffen der Royal Navy, hatte Lucy nie zuvor eine Kajüte von solch großzügigen Ausmaßen gesehen. An Steuerbord gab es sogar ein Fenster, ein riesiges Bullauge, das den Blick auf die trostlose Morgendämmerung freigab, die sich über der grauen See entfaltete.
Für die rastlose Energie ihres Meisters war nicht einmal die riesenhafte Kajüte groß genug. Er streifte eher umher, als auf und ab zu gehen.
Als er auf dem Absatz kehrtmachte, war der Mann verschwunden, den Lucy als Gerard Claremont kennen gelernt hatte. Seinen Platz hatte der verwegene Fremde eingenommen, der in der furchteinflößendsten, aufregendsten Nacht in Lucys Leben in ebenjener Kajüte um sie herumgeschritten war. In jedem Wiegen seines Seemannsganges zeigte sich der Machtmensch. Dieser Mann hielt es nicht für nötig, die Pistole unterm Gehrock zu verbergen; er trug sie offen im Bund seiner schwarzen Breeches, die sich wie eine zweite Haut um seine sehnigen Flanken legten.
Lucy
Weitere Kostenlose Bücher