Verführt: Roman (German Edition)
begehrten. Ob wohl Gläubiger darunter gewesen waren, die Vaters Schwäche hatten ausnutzen wollen, um Schulden einzutreiben?
Als auch andere Kindheitserinnerungen zurückkehrten, verschwamm die ungestörte Aussicht auf Himmel und Meer vor Lucys müden Augen – Vater, wie er sich gestelzt von ihr verabschiedete, um sich zu einer der endlosen Sitzungen der Admiralität zu begeben; die langen, einsamen Abende, an denen allein die Gloxinien und ihr Skizzenbuch ihr Gesellschaft leisteten; die Schritte, die in den frühen Morgenstunden an ihrem Zimmer vorbeischlichen.
Zum ersten Mal fragte sie sich, ob Mutters Leben an der Seite des Admirals genauso trostlos gewesen war wie ihr eigenes.
Ihr wurde eng ums Herz, und ihr Atem stockte. Sie presste die Hand an die Kehle und fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren, bevor sie das fremde Gefühl ergründen konnte, das ihre Tränen stocken ließ.
Schling nicht so gierig dein Essen hinunter, Lucinda!
Die Knie zusammen, Lucinda!
Den Rücken gerade, Lucinda!
Die barschen Tadel erschienen ihr wie blanker Hohn. Was, wenn Gerard Recht hatte? Was, wenn Vaters fromme Reputation nur eine sorgsam durchdachte List war? Was, wenn er sich sein Leben lang dem Laster hingegeben hatte und die ganze Zeit ein Heidenvergnügen daran gehabt hatte, seine Tochter für die moralischen Verfehlungen einer längst verstorbenen Frau auszuschimpfen?
Ihre Hand glitt zum Herzen hinab, als wolle sie es vor der unerträglichen Wahrheit behüten. Besorgt stellte sie fest, dass Angst und Trauer viel zu schnell dem Zorn wichen. Einem Zorn, den sie neunzehn Jahre lang gehorsam unterdrückt hatte. Wie es schien, hatte jeder Mann in ihrem Leben sie hintergangen. Gerard. Der Admiral. Alle bis auf Smythe. Und sogar den hatte angeborene Zurückhaltung daran gehindert, ihr die Hand hinzustrecken, wie er es vielleicht gerne getan hätte.
Hinter zusammengebissenen Zähnen ertönte ein schriller Zornesschrei. Entsetzt über den primitiven Laut, schlug sie die Hand vor den Mund.
Das einigermaßen hysterische Gekicher, das dem Schrei folgte, war noch entsetzlicher; es schien dem unbändigen, frohlockenden Freiheitsdrang zu entstammen, der durch ihre Adern pumpte.
Es war niemand mehr übrig, dessen Anerkennung ihr etwas bedeutet hätte. Sie konnte mit krummem Rücken dasitzen, ihr Essen hinunterschlingen und dabei die Knie spreizen, wenn ihr danach war. Sie brauchte nie mehr die überzogenen Erwartungen anderer Leute zu erfüllen. Sie brauchte nie mehr des Admirals brave kleine Tochter zu sein.
Von der Ironie des Schicksals überwältigt, sank sie auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie hatte alles verloren, was ihr lieb und teuer gewesen war, um schließlich ihr eigenes Selbst zu gewinnen.
20
Als er spät am Nachmittag die Kajüte betrat, glaubte Gerard zuerst, er sei in ein kolossales Spinnennetz gelaufen. Er schlug es fort und bekam einen feuchten Socken ins Gesicht zurück. Neugierig zupfte er an der vertrauten rosafarbenen Zehenspitze und erkannte einen von Lucys Strümpfen. Das Licht einer Laterne fiel durchs zarte Seidengewebe und unterstrich aufs Vorteilhafteste die dekadente Transparenz.
Er zog interessiert die Augenbraue hoch und fühlte lüsterne Instinkte erwachen. Wenn Lucys Unterwäsche zum Trocknen über den Deckenbalken hing, was hatte Lucy dann an? Hatte sie überhaupt irgendetwas an? Er bedeutete Apollo zurückzubleiben, tapste voran und schob die durchweichten Unterröcke zur Seite, um eines Trümmerhaufens von Kajüte angesichtig zu werden.
In wortlosem Schock klappte sein Unterkiefer herunter. Innerhalb weniger Stunden hatte Lucy seine geheiligte Zuflucht ins völlige Chaos gestürzt. Jedes Schubfach und jede Schranktür stand offen und spuckte ihren Inhalt aus. Aufgefaltete Land-und Seekarten bedeckten den Schreibtisch. Von Krümeln umgeben, lag kopfüber eine leere Keksdose da, als sei sie einer riesigen Ratte anheim gefallen. Nein, nicht einer Ratte, korrigierte Gerard sich gequält. Sondern einem Mäuschen mit rosa Ohren und grauen Augen.
Er verbiss sich ein Knurren, als er seine geliebte Erstausgabe von Defoes Captain Singleton , aufgeschlagen und mit dem Rücken nach oben, auf dem Boden entdeckte. Allein das Bett war von jeglicher Verwüstung verschont geblieben. Die burgunderrote Tagesdecke lag wie das Meer der Stille im Auge des Sturms.
Auf Iona war ihm Lucys Schlamperei noch durchaus charmant erschienen, aber in seinem eigenen, wohl geordneten Reich
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