Verführt von einer Lady
viel Nachsicht mit ihr üben. Sie ist ganz außer sich.“
Amelia schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der ihr in die Kehle stieg. Wieso hatte sie nicht gewusst, dass Grace Wyndham nur Vornamen ansprach? Natürlich standen sie auf vertrautem Fuß miteinander, schließlich wohnten sie im selben Haus. Gut, es war riesig groß und steckte voller Dienstboten, aber Grace dinierte mit der Herzoginwitwe, was bedeutete, dass sie auch oft mit Wyndham dinierte. Nach fünf Jahren mussten sie zahllose Gespräche geführt haben.
Amelia wusste das alles, und es machte ihr nichts aus. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht. Es kümmerte sie nicht einmal, dass Grace ihn mit Thomas angesprochen hatte, während sie, seine Verlobte, ihn nicht einmal in Gedanken so nannte.
Aber wieso hatte sie das nicht gewusst? Hätte sie es nicht wissen sollen?
Und warum machte es ihr so viel aus, dass sie es nicht gewusst hatte?
Sie musterte sein Profil. Er sprach immer noch mit Grace, und das mit einem Gesichtsausdruck, den sie an ihm noch nie gesehen hatte. Vertrautheit lag darin, eine Wärme, die von gemeinsamen Erlebnissen sprach, und …
Ach, lieber Gott. Hatte er sie geküsst? Hatte er Grace geküsst?
Halt suchend klammerte Amelia sich am Rand des Stuhles fest. Das konnte er doch nicht getan haben. Sie hätte das nicht getan. Grace war zwar eher mit Elizabeth als mit ihr befreundet, aber trotzdem, einen solchen Verrat hätte sie niemals begangen. Dazu wäre sie gar nicht in der Lage gewesen. Selbst wenn sie glaubte, in ihn verliebt zu sein, selbst wenn sie glaubte, eine derartige Tändelei könnte in eine Ehe münden, wäre sie niemals so ungezogen, so treulos, um …
„Amelia?“
Blinzelnd sah Amelia ihre Schwester an.
„Geht es dir nicht gut?“
„Mir geht es wunderbar“, sagte sie scharf, denn sie wollte wirklich nicht, dass alle sie ausgerechnet dann ansahen, wenn sie – und davon war sie überzeugt – ganz grün im Gesicht war.
Natürlich wandten alle den Kopf in ihre Richtung.
Aber Elizabeth ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Sie legte ihrer Schwester die Hand auf die Stirn und murmelte: „Heiß bist du nicht.“
„Natürlich nicht“, brummte Amelia und schob ihre Hand weg. „Ich habe nur zu lange gestanden.“
„Du hast gesessen“, korrigierte Elizabeth sie.
Amelia stand auf. „Ich glaube, ich brauche ein wenig frische Luft.“
Elizabeth erhob sich ebenfalls. „Ich dachte, du wolltest dich hinsetzen.“
„Ich setze mich draußen hin“, knurrte Amelia und wünschte sich, sie wäre nicht aus ihrer kindlichen Angewohnheit herausgewachsen, ihre Schwester in die Schulter zu boxen. „Entschuldige mich bitte“, murmelte sie und durchquerte den Raum, obwohl das bedeutete, dass sie direkt an Wyndham und Grace vorbeimusste.
Gentleman, der er war, hatte er sich ebenfalls erhoben und neigte nun ganz leicht den Kopf, als sie an ihm vorbeikam.
Und dann – o Gott, konnte etwas noch demütigender sein? – sah sie aus dem Augenwinkel, wie Grace ihm einen Rippenstoß versetzte.
Darauf trat einen furchtbaren Augenblick lang Schweigen ein, in dessen Verlauf er, wie Amelia annahm, Grace wütend anfunkelte; sie selbst war zum Glück schon an der Tür und brauchte ihn nicht anzusehen. Dann sagte er in seinem üblichen höflichen Ton: „Gestatten Sie, dass ich Sie begleite.“
Amelia blieb in der Tür stehen und drehte sich langsam um. „Vielen Dank für Ihre Fürsorge“, sagte sie langsam, „aber das ist nicht nötig.“
An seiner Miene konnte sie ablesen, dass er das Schlupfloch gern genutzt hätte, das sie ihm anbot; offenbar hatte er aber ein schlechtes Gewissen, weil er sie so ignoriert hatte, denn er erklärte energisch: „Natürlich ist es das.“ Und im nächsten Augenblick lag ihre Hand auf seinem Arm, und sie gingen zusammen nach draußen.
Sie hätte so gern ihr fadestes Lächeln aufgesetzt und gesagt: Was für ein Glück ich habe, mit Ihnen verlobt zu sein.
Oder vielleicht auch:
Muss ich jetzt Konversation treiben?
Oder wenigstens: Ihr Krawattentuch sitzt schief .
Aber natürlich sagte sie nichts von alledem.
Denn er war der Herzog und sie seine Verlobte. Zwar war es ihr letzten Abend gelungen, ein wenig Temperament zu zeigen, aber …
Das war vor dem Kuss gewesen.
Merkwürdig, wie dieser Kuss alles veränderte.
Amelia warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er sah starr geradeaus, und sein Kinn wirkte unglaublich stolz und entschlossen.
Grace hatte er nicht so angesehen.
Sie schluckte und
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