Verführt von einer Lady
widernatürlicher Enkel“, zischte sie.
Thomas zuckte mit den Schultern und beschloss, ihr das letzte Wort zu lassen. Sie hatte einen schwierigen Abend hinter sich. Und er war müde.
Außerdem war es ihm sowieso ziemlich egal.
4. KAPITEL
Das Irritierendste war, dachte Amelia, während sie an ihrem Tee nippte, der inzwischen natürlich kalt geworden war, dass sie auch ein schönes Buch hätte lesen können.
Oder ausreiten.
Oder die Zehen in einen Bach halten oder Schach spielen oder dem Lakaien daheim beim Silberputzen zusehen.
Aber stattdessen saß sie hier in einem von Belgrave Castles zwölf Salons, trank kalten Tee, fragte sich, ob es wohl unhöflich wäre, den letzten Keks zu essen, und zuckte jedes Mal zusammen, wenn draußen Schritte ertönten.
„Ach du lieber Himmel! Grace!“, rief Elizabeth gerade aus. „Kein Wunder, dass du so abgelenkt wirkst!“
„Hmmm?“ Amelia richtete sich auf. Anscheinend hatte sie etwas Interessantes verpasst, während sie darüber nachgedacht hatte, wie sie ihrem Verlobten aus dem Weg gehen könnte. Der, wie zu vermelden war, vielleicht in Grace verliebt war. Oder auch nicht.
Jedenfalls hatte er sie geküsst, nicht Grace.
Was ziemlich schäbig von ihm war. Beiden Damen gegenüber.
Amelia sah sich Grace ein wenig genauer an, betrachtete ihr dunkles Haar und ihre blauen Augen und erkannte erstaunt, dass sie wirklich ziemlich schön war. Eigentlich hätte sie das nicht überraschen dürfen, schließlich kannte sie Grace schon ihr ganzes Leben. Bevor Grace die Gesellschafterin der Herzoginwitwe geworden war, war sie die Tochter eines Landedelmanns gewesen.
Vermutlich war sie das immer noch, nur dass dieser Landedelmann inzwischen gestorben war, wodurch sie ziemlich schlimm dastand, was Schutz und Lebensunterhalt anging. Aber damals, als Graces Familie noch am Leben gewesen war, hatten sie alle zum selben Kreis gehört. Graces Eltern mochten den ihren nicht sehr nahegestanden haben, aber die Kinder waren eng befreundet gewesen. Sie hatte Grace ungefähr einmal die Woche gesehen – zweimal, wenn man den sonntäglichen Gottesdienst mitrechnete.
Aber in Wahrheit hatte sie nie über Graces Äußeres nachgedacht. Nicht dass es ihr egal gewesen wäre oder sie sich darüber erhaben gefühlt hätte. Es war nur … nun ja … warum eigentlich? Grace war einfach immer da gewesen. Ein fester, verlässlicher Bestandteil ihrer Welt. Sie war Elizabeths beste Freundin, hatte tragischerweise die Eltern verloren und war von der Herzoginwitwe aufgenommen worden.
Das überlegte Amelia sich noch einmal. Aufgenommen war vielleicht etwas beschönigend. Grace musste wirklich hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Selbst wenn sie keine körperlichen Dienste verrichten musste, war es überaus anstrengend, Zeit mit der Herzoginwitwe zu verbringen.
Wie Amelia aus erster Hand wusste.
„Ich habe mich gut davon erholt“, sagte Grace gerade. „Ich bin nur noch ein wenig müde, fürchte ich. Ich habe nicht gut geschlafen.“
„Was ist passiert?“, fragte Amelia. Es hatte wohl keinen Sinn, so zu tun, als hätte sie zugehört.
Worauf ihre Schwester sie tatsächlich in die Rippen stieß. „Grace und die Herzoginwitwe sind von Straßenräubern überfallen worden!“
„Wirklich?“
Grace nickte. „Letzten Abend. Auf dem Heimweg vom Ball.“
Das war tatsächlich einmal interessant. „Haben sie euch irgendetwas geraubt?“, erkundigte sich Amelia. Sie fand diese Frage recht passend.
„Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“, rief Elizabeth. „Sie haben mit der Waffe auf sie gezielt!“ Sie wandte sich an Grace. „Stimmt doch, oder?“
„Ja, allerdings.“
Amelia ließ sich das durch den Kopf gehen. Nicht, dass Grace mit der Waffe bedroht worden war, sondern dass sie sich bei diesem Bericht so wenig entsetzte. Vielleicht war sie ein gefühlskalter Mensch.
„Hattest du nicht schreckliche Angst?“, erkundigte sich Elizabeth atemlos. „Ich wäre bestimmt vor Angst in Ohnmacht gefallen.“
„Ich nicht“, erklärte Amelia.
„Na, natürlich nicht“, erwiderte Elizabeth gereizt. „Du hast dich ja nicht mal aufgeregt, als Grace davon erzählt hat.“
„Eigentlich klingt das alles ziemlich aufregend.“ Amelia warf Grace einen neugierigen Blick zu. „War es das?“
Worauf Grace – lieber Himmel! – errötete.
Amelia beugte sich mit glänzenden Augen vor. Ein Erröten konnte alles Mögliche bedeuten – lauter herrliche Dinge. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, eine
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