Verführt von einer Lady
unterdrückte ein Seufzen. Dabei durfte sie kein Geräusch machen, denn dann würde er sich umdrehen und sie auf diese typische Art ansehen – durchdringend, eisig; wirklich, ihr Leben wäre um so vieles leichter, wenn seine Augen nicht ganz so blau wären. Und dann würde er fragen, was los sei, aber natürlich würde ihn die Antwort gar nicht interessieren, das würde sie schon seinem Ton entnehmen können, und dann würde sie sich noch schlechter fühlen, und …
Und was? Wieso machte ihr das überhaupt etwas aus?
Er hielt inne, und sie sah ihn an. Er schaute über die Schulter, zurück zum Schloss.
Zu Grace.
Plötzlich fühlte sich Amelia ziemlich elend.
Diesmal gelang es ihr nicht, das Seufzen zu unterdrücken. Anscheinend machte ihr das alles eine ganze Menge aus.
Zum Kuckuck damit.
Es war ein herrlicher Tag, dachte Thomas beinahe leidenschaftslos. Der Himmel war blau und weiß, das Gras gerade lang genug, um sich anmutig im Wind zu wiegen. Vor ihnen lag ein kleines Wäldchen, umgeben von Ackerland, weiter hinten fielen die Hügel sanft zur Küste ab. Das Meer war über zwei Meilen entfernt, aber an Tagen wie diesen, wenn der Wind von Osten kam, lag ein leichter Salzgeruch in der Luft. Vor ihnen erstreckte sich nichts als Natur, wie Gott sie erschaffen hatte – oder zumindest wie die Sachsen sie vor Jahrhunderten zurückgelassen hatten.
Es war herrlich, und herrlich wild. Wenn man dem Schloss den Rücken zukehrte, wähnte man sich fast fern jeder Zivilisation. Man konnte beinah glauben, dass man, wenn man immer geradeaus ging, ewig so weitergehen konnte. Bis man verschwand.
Hin und wieder hatte er mit dem Gedanken gespielt. Er hatte seine Reize.
Aber hinter ihm lag sein Erbe. Es war mächtig und imposant und wirkte von außen nicht sehr freundlich.
Thomas dachte an seine Großmutter. Auch im Inneren war Belgrave nicht immer sehr freundlich.
Aber es gehörte ihm, und er liebte es, trotz der schweren Last der Verantwortung, die damit verbunden war. Belgrave Castle steckte ihm in den Knochen. In seiner Seele. So groß die Versuchung auch sein mochte, er würde dem Schloss nie den Rücken kehren.
Im Augenblick hatte er jedoch dringendere Verpflichtungen. Die dringendste ging gerade neben ihm.
Innerlich seufzte er. Nur ein kaum wahrnehmbares Augenrollen verriet, wie lustlos er war. Vermutlich hätte er eben im Salon ein wenig um Lady Amelia herumtanzen sollen. Zur Hölle, vermutlich hätte er erst mit ihr sprechen sollen, ehe er sich an Grace wandte. Er wusste , dass er es hätte tun sollen, aber das Theater mit dem Gemälde war so absurd gewesen, dass er jemandem davon erzählen musste, und Lady Amelia hätte es ja nicht verstanden.
Trotzdem, er hatte sie am Abend davor geküsst, und selbst wenn er dazu vollkommen berechtigt gewesen war, sollte er danach wohl ein wenig Finesse an den Tag legen. „Ich hoffe, Sie sind gestern Abend ohne Zwischenfall nach Hause gelangt“, sagte er. Als Gesprächseröffnung taugte dies genauso gut wie jeder andere Satz.
Sie hielt den Blick auf die Bäume direkt vor ihnen gerichtet. „Wir wurden nicht von Straßenräubern überfallen“, bestätigte sie.
Er sah zu ihr hinüber und versuchte abzuschätzen, wie das gemeint war. In ihrer Stimme hatte eine Spur Ironie gelegen, doch ihre Miene war wunderbar gelassen.
Sie fing seinen Blick auf und murmelte: „Vielen Dank für Ihre Besorgnis.“
Unwillkürlich fragte er sich, ob sie wohl dachte, sie mache sich über ihn lustig. „Herrliches Wetter heute“, meinte er, denn irgendwie hatte er den Eindruck, diese Bemerkung wäre genau richtig, um sie zu reizen. Er war sich nicht sicher, warum. Genauso wenig wusste er, warum ihm danach war, sie zu reizen.
„Sehr angenehm“, stimmte sie zu.
„Und, geht es Ihnen wieder besser?“
„Nach dem letzten Abend?“, fragte sie und blinzelte überrascht.
Amüsiert blickte er auf ihre rosig überhauchten Wangen. „Ich dachte, seit vorhin, aber der letzte Abend tut es auch.“
Es tat gut zu wissen, dass sein Kuss einer Frau immer noch die Röte in die Wangen treiben konnte.
„Es geht mir schon viel besser“, erklärte sie energisch und strich sich das Haar zurecht, das, nachdem sie keinen Hut trug, vom Wind aufgewirbelt wurde. Immer wieder verfing es sich in ihrem Mundwinkel. Er hätte das schrecklich enervierend gefunden. Wie hielten die Frauen das bloß aus?
„Ich fand es im Salon recht drückend“, fügte sie hinzu.
„Ah ja“, murmelte er. „Dort ist es ein
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