Verführt von einer Lady
sie.
Sie schluckte. Er stand viel zu dicht neben ihr. Vermutlich fiel ihm nicht einmal auf, wie nah er ihr gekommen war; seine Stimme jedenfalls klang vollkommen gelassen, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.
„Warum haben Sie gesagt, dass meine Augen braun sind?“, fragte sie, den Blick immer noch fest auf den Atlas geheftet.“
„Hab ich doch gar nicht. Ich habe gesagt, sie wirkten braun.“
Sie spürte eine völlig unangemessene Eitelkeit in sich aufsteigen. Auf ihre grün-braunen Augen war sie immer stolz gewesen. Sie waren ihr größter Vorzug, und sie waren einzigartig. Ihre Schwestern hatten alle die gleiche blonde Haarfarbe und den gleichen Teint, aber sie war die einzige mit so interessanten Augen.
„Heute Morgen haben sie eher grün gewirkt“, fuhr er fort. „Obwohl das auch noch der Alkohol gewesen sein könnte. Noch ein Glas Bier, und ich hätte Schmetterlinge aus Ihren Ohren kommen sehen.“
Empört fuhr sie auf. „Mit dem Alkohol hat das rein gar nichts zu tun. Meine Augen sind grün-braun. Eher grün als braun“, beharrte sie.
Er lächelte verstohlen. „Na, so was, Amelia, habe ich da eine Spur Eitelkeit entdeckt?“
Das hatte er, aber sie würde es niemals zugeben. „Sie sind grün-braun“, erklärte sie ein wenig steif. „Es liegt in der Familie.“
In irgendeiner Familie bestimmt.
„Eigentlich“, sagte er sehr sanft, „habe ich nur darüber gestaunt, wie sie die Farbe wechseln können.“
„Oh.“ Sie schluckte, etwas aus der Fassung gebracht von diesem zarten Kompliment. Und ziemlich erfreut. „Danke.“ Sie wandte sich wieder der Karte zu, die vor ihr auf dem Tisch lag, tröstlich und sicher. „Sehen Sie nur, wie groß Grönland ist“, sagte sie, hauptsächlich, weil der große Fleck oben das Erste war, worauf ihr Auge fiel.
„In Wirklichkeit ist es gar nicht so groß“, erklärte er. „Die Karte verzerrt die Größenverhältnisse.“
„Ach, wirklich?“
„Wussten Sie das nicht?“
Sein Ton war nicht beleidigend. Er war nicht einmal herablassend, aber sie kam sich dennoch dumm vor. Anscheinend sollte man dergleichen wissen. Und auf alle Fälle gehörte es zu den Dingen, die sie gern gewusst hätte.
„Das rührt daher, dass ein kugelförmiges Objekt auf eine Fläche projiziert wird“, erklärte er. „Stellen Sie sich vor, Sie wickeln die Karte um eine Kugel. Dann hätten Sie an den Polen jeweils eine Menge Papier übrig. Und stellen Sie sich dann umgekehrt vor, die Oberfläche der Kugel herzunehmen und flach auszurollen. Sie würden kein Rechteck bekommen.“
Sie nickte und legte nachdenklich den Kopf schief. „Dann sind die oberen und unteren Enden gedehnt. Beziehungsweise der Norden und der Süden.“
„Genau. Sehen Sie, Grönland wirkt genauso groß wie Afrika. Eigentlich aber besitzt es nur ein Zehntel der Fläche.“
Sie sah zu ihm hoch. „Nichts ist, wie es scheint, nicht?“
Er schwieg so lange, dass sie zu überlegen begann, ob es überhaupt noch um Karten ging. Und dann sagte er ausdruckslos: „Nein.“
Kopfschüttelnd schaute sie wieder auf die Karte. „Seltsam.“
Und sie glaubte , ihn sagen zu hören: „Sie haben ja keine Ahnung.“ Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu und wollte schon fragen, was er damit meinte, aber er hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder auf die Karte gerichtet.
„Diese Projektionen haben wirklich ihren Vorteil“, sagte er. Er klang energisch, als sei nun er an der Reihe, das Thema zu wechseln. „Es stimmt, dass die Flächen verzerrt wiedergegeben werden, dafür ist die Darstellung winkelgetreu; deswegen sind sie auch so geeignet zum Navigieren.“
Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie alles verstand, was er sagte, aber es bereitete ihr Freude, ihm bei einer so wissenschaftlichen Erklärung zuzuhören. Und sie fand es einfach wunderbar, dass er das Thema nicht als etwas abtat, was eine Dame bestimmt nicht interessieren würde. Lächelnd sah sie ihn an. „Sie scheinen eine ganze Menge darüber zu wissen.“
Er zuckte bescheiden mit den Schultern. „Ich interessiere mich eben dafür.“
Sie saugte die Lippen nach innen, eine Angewohnheit, die ihre Mutter verabscheute. Aber sie konnte nicht davon lassen. Sie tat es immer dann, wenn sie überlegte, was sie sagen sollte. Oder ob sie etwas sagen sollte.
„Dieses Fachgebiet hat einen Namen, nicht wahr?“, fragte sie. Sie tappte nervös mit dem Fuß. Sie wollte den Namen deswegen erfahren, weil sie es zu Hause dann in der Enzyklopädie ihres
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