Verführt von einer Lady
vielleicht in Mr. Audley verliebt?“
„Nein!“
Graces Wangen, die allmählich wieder ihre normale Farbe angenommen hatten, flammten erneut dunkelrot auf. Ihr Nein war ziemlich laut gewesen, und Mr. Audley betrachtete sie mit amüsierter Neugierde. Grace lächelte schwach, nickte und sagte: „Mr. Audley“, obwohl er es von seinem Platz aus gar nicht hören konnte.
„Ich habe ihn gerade erst kennengelernt“, wisperte Grace wild. „Gestern. Nein, vorgestern. Ich kann mich nicht erinnern.“
„In letzter Zeit begegnen dir ja eine ganze Reihe aufregender Herren.“
Grace fuhr auf. „Was meinst du damit?“
„Mr. Audley …“, neckte Amelia. „Der italienische Straßenräuber.“
„Amelia!“
„Ach, stimmt, du hast ja gesagt, er wäre Schotte gewesen. Oder Ire. Du warst dir nicht sicher.“ In diesem Moment fiel Amelias Blick auf Mr. Audley, und sie erinnerte sich, dass auch er einen etwas fremdartigen Akzent hatte. „Woher kommt eigentlich Mr. Audley? Er spricht auch einen leichten Dialekt.“
„Ich weiß es nicht“, versetzte Grace, ziemlich ungeduldig, fand Amelia.
„Mr. Audley!“, rief Amelia.
Sofort drehte er interessiert den Kopf zu ihr um.
„Grace und ich haben uns gefragt, woher Sie kommen.“
„Aus Irland, Lady Amelia, ein Stück nördlich von Dublin.“
„Irland! Meine Güte, Sie kommen ja von weit her!“
Darauf lächelte er nur.
Inzwischen waren die Damen wieder am Sofa angekommen. Amelia machte sich von Grace los und setzte sich. „Wie gefällt es Ihnen in Lincolnshire, Mr. Audley?“
„Lincolnshire steckt voller Überraschungen.“
„Überraschungen?“ Amelia wollte sich durch einen Blick vergewissern, ob auch Grace diese Antwort merkwürdig fand, doch Grace stand an der Tür und blickte nervös hinaus.
„Mein Besuch hier gestaltet sich nicht so, wie ich erwartet habe.“
„Wirklich? Was haben Sie denn erwartet? Ich versichere Ihnen, dass es in dieser Ecke Englands recht gesittet zugeht.“
„Allerdings“, stimmte er zu. „Mehr, als mir lieb ist, wenn ich ehrlich bin.“
„Aber Mr. Audley, was meinen Sie damit nur?“
Er lächelte rätselhaft, sagte aber nichts weiter, was Amelia wunderte; es wollte so gar nicht zu ihm passen. Im nächsten Moment allerdings fiel ihr auf, dass sie ihn ja erst seit einer Viertelstunde kannte. Wie merkwürdig, dass sie schon Vermutungen zu seinem Charakter anstellte.
„Oh“, hörte sie da Grace sagen, und dann: „Entschuldigen Sie mich.“
Sie eilte aus dem Zimmer.
Amelia und Mr. Audley sahen sich an, und dann richteten sie den Blick gemeinsam zur Tür.
12. KAPITEL
Nach Harry Gladdish war der Mann, der Thomas am besten kannte, sein Kammerdiener Grimsby. Er diente dem Herzog seit dessen Studienzeiten. Anders als andere Kammerdiener war Grimsby von besonders kräftiger Konstitution. Nicht dass man ihm das angesehen hätte: Er war ziemlich schlank und sein Teint so fahl, dass sich die Haushälterin Sorgen um ihn machte und ihn ständig dazu bewegen wollte, doch mehr Rindfleisch zu essen.
Wenn Thomas von einem Höllenritt durch den Regen vollkommen durchnässt und schlammbespritzt zurückkehrte, erkundigte Grimsby sich lediglich nach dem Pferd.
Wenn Thomas einen Tag auf dem Feld verbrachte, um den Pächtern bei der Arbeit zu helfen, und schmutzverkrustet nach Hause zurückkam, fragte Grimsby ihn nur, ob er sein Badewasser warm, heiß oder brühheiß wolle.
Aber als Thomas nun in sein Schlafzimmer stolperte, vermutlich immer noch nach Alkohol riechend – ihm selbst fiel der Geruch längst nicht mehr auf –, ohne Krawattentuch, das Auge von einem bemerkenswert purpurroten Fleck geziert, ließ Grimsby die Schuhbürste fallen.
Möglicherweise war dies das einzige Anzeichen von Erschütterung, das er sich je hatte anmerken lassen.
„Ihr Auge“, sagte Grimsby.
Ach, natürlich. Seit der Rauferei mit seinem wunderbaren neuen Vetter hatte er Grimsby ja nicht mehr gesehen. Thomas grinste schief. „Vielleicht finden wir ja eine Weste, die damit harmoniert.“
„Ich glaube nicht, dass wir da etwas Passendes haben, Euer Gnaden.“
„Nein?“ Thomas ging zur Waschschüssel. Wie immer hatte Grimsby dafür gesorgt, dass sie mit Wasser gefüllt war. Inzwischen war es nur noch lauwarm, aber er durfte sich wirklich nicht beschweren. Er spritzte sich etwas ins Gesicht und rieb sich mit dem Handtuch trocken. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass er damit nicht einmal ansatzweise eine Verbesserung herbeigeführt hatte, und
Weitere Kostenlose Bücher