Verführt von einer Lady
Rolle, da die Antwort völlig unbefriedigend ausfallen würde. Sie öffnete die Augen. Grace sah aus, als ob sie sich wünschte, die Frage nicht gestellt zu haben.
„Ich weiß nicht“, sagte Amelia. Sie ließ sich wieder in die Polster zurücksinken und schloss die Augen. Es gefiel ihr, mit geschlossenen Augen in der Kutsche zu sitzen. Dann konnte man das Rattern der Räder besser spüren. Es war beruhigend. Nun ja, meistens. Heute allerdings nicht. Nicht nachdem sie zu irgendeinem ihr unbekannten irischen Dorf unterwegs war, wo ihre Zukunft vom Inhalt eines Kirchenregisters entschieden werden würde.
Nicht heute, nachdem ihr Vater ihr die ganze Mittagsrast hindurch Vorträge gehalten und ihr das Gefühl vermittelt hatte, sie sei ein unartiges Kind.
Nicht heute, wo …
„Weißt du, was das Komischste von allem ist?“, fragte Amelia, die den Gedanken ausgesprochen hatte, ehe sie sich seiner noch richtig bewusst geworden war.
„Nein.“
„Ich denke dauernd: ‚Das ist nicht fair. Ich sollte wählen dürfen und nicht wie irgendein Gebrauchsgegenstand verschachert werden.‘ Aber dann denke ich: ‚Wo ist der Unterschied? Ich wurde Wyndham vor Jahren übergeben. Ich habe mich nie darüber beschwert.‘“
All das sagte sie mit geschlossenen Augen. Es war irgendwie befriedigender, es im Dunkeln zu tun.
„Du warst damals noch ein Kind“, meinte Grace.
„Ich hatte viele Jahre Zeit, meine Beschwerde vorzubringen.“
„Amelia …“
„Ich kann niemandem etwas vorwerfen, nur mir selbst.“
„Das ist nicht wahr.“
Endlich öffnete Amelia die Augen. Zumindest etwas. „Das sagst du doch nur so.“
„Nein. Ich würde es zwar auch sagen, wenn es nicht stimmt, das ist richtig“, räumte Grace ein. „Aber zufällig spreche ich die Wahrheit: Du kannst nichts dafür. Eigentlich kann überhaupt keiner etwas dafür. Wäre schön, wenn wir einen Schuldigen hätten. Dann wäre alles einfacher.“
„Wenn wir einen Sündenbock hätten?“
„Ja.“
Und dann flüsterte Amelia: „Ich will ihn nicht heiraten.“
„Thomas?“
Thomas? Was dachte sie sich nur? „Nein“, erwiderte Amelia und sah Grace in die Augen. „Mr. Audley.“
Grace blieb der Mund offen stehen. „Wirklich nicht?“
„Du klingst schockiert.“
„Nein, natürlich nicht“, versetzte Grace rasch. „Es ist nur, weil er so attraktiv ist.“
Amelia zuckte ein wenig mit den Schultern. „Ja, vermutlich. Findest du nicht, dass er eine Spur zu charmant ist?“
„Nein.“
Amelia betrachtete Grace mit neuem Interesse. Ihr Nein hatte eine Spur defensiver geklungen, als sie erwartet hätte. „Grace Eversleigh“, sagte sie und senkte nach einem raschen Blick auf die Herzoginwitwe die Stimme, „dir gefällt Mr. Audley doch nicht etwa?“
Allerdings wurde nun noch offensichtlicher, dass dem so war, denn Grace begann zu stottern und zu stammeln, und schließlich brachte sie ein krötenähnliches Geräusch hervor.
Was Amelia höchst amüsant fand. „Er gefällt dir tatsächlich!“
„Es hat nichts zu bedeuten“, murmelte Grace.
„Natürlich hat es etwas zu bedeuten“, erwiderte Amelia keck. „Gefällst du ihm auch? Nein, sag nichts. Ich sehe dir auch so an, dass du ihm gefällst. Na gut. Jetzt werde ich ihn bestimmt nicht heiraten.“
„Du solltest ihn nicht meinetwegen zurückweisen“, erklärte Grace.
„ Was hast du gerade gesagt?“
„Wenn er der Duke ist, kann ich ihn nicht heiraten.“
Amelia hätte ihr am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Wie konnte sie es nur wagen, der Liebe den Rücken zu kehren? „Warum nicht?“
„Wenn er der Duke ist, muss er sich eine passende Frau suchen.“ Grace warf ihr einen scharfen Blick zu. „Jemanden deines Ranges.“
„Ach, sei nicht albern. Schließlich bist du auch nicht gerade im Waisenhaus aufgewachsen.“
„Es wird auch so schon einen ausgewachsenen und saftigen Skandal geben. Er muss ihn nicht noch vergrößern, indem er eine aufsehenerregende Ehe eingeht.“
„Eine Schauspielerin wäre aufsehenerregend. Du wärst höchstens für eine kümmerliche Woche Klatsch gut.“ Sie wartete darauf, dass Grace sich dazu äußerte, aber ihre Freundin wirkte so durcheinander und so … so … traurig . Amelia ertrug es kaum. Sie dachte an Grace, die in Mr. Audley verliebt war, und an sich selbst, die sich von fremden Erwartungen mitziehen ließ.
So wollte sie es nicht haben.
So wollte sie nicht sein .
„Ich weiß natürlich nicht, was in Mr. Audley vorgeht oder welche
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