Verführt von einer Lady
Zurückhaltung gestaunt hatte, über die Art, wie er Leute mit einem Blick zu bändigen wusste. Sie atmete tief durch, stärkte sich mit der Erinnerung und setzte sie gegen die Herzoginwitwe ein.
„Ach, meine Güte“, fuhr die Herzoginwitwe sie an, nachdem Amelia sie eine Weile angestarrt hatte. „Dann bringen Sie sie eben mit. Aber erwarten Sie nicht, dass ich Konversation treibe.“
„Das würde mir nicht im Traum einfallen“, murmelte Amelia und stieg in die Kutsche. Grace folgte ihr.
Zu Amelias und Graces Leidwesen – und auch zu Lord Crowlands, der nach der ersten Pause beschlossen hatte, ebenfalls in der Kutsche zu fahren – entschied die Herzoginwitwe, nun doch Konversation zu treiben.
Obwohl Konversation eine gewisse Wechselseitigkeit nahelegte, die, da war Amelia sich sicher, in dieser Kutsche nicht gegeben war.
Es gab Anweisungen und noch einmal so viele Klagen. Echte Konversation hingegen war Mangelware.
Amelias Vater hielt es nur eine halbe Stunde aus, ehe er mit der Faust an die Vorderwand schlug und verlangte, dass man ihn herausließ.
Verräter, dachte Amelia. Seit ihrer Geburt plante er, sie im Haushalt der Herzoginwitwe unterzubringen, und er selbst hielt nicht mal eine halbe Stunde durch?
Beim Mittagessen unternahm er einen recht schwächlichen Versuch, sich zu entschuldigen – nicht dafür, dass er sie gegen ihren Willen verheiraten wollte, sondern nur dafür, dass er sie in der Kutsche im Stich gelassen hatte –, aber welche Sympathien sie auch für ihn hegen mochte, sie verflüchtigten sich, als er anfing, ihr Vorträge über ihre Zukunft und seine diesbezüglichen Beschlüsse zu halten.
Die einzige Atempause wurde ihr nach dem Lunch gewährt, als die Herzoginwitwe und Grace beide einnickten. Amelia starrte aus dem Fenster, sah zu, wie Irland an ihr vorbeirollte, und lauschte auf das Hufgetrappel. Und die ganze Zeit fragte sie sich, wie das alles hatte passieren können. Sie war viel zu vernünftig, um zu glauben, dass sie träumte, aber wirklich – wie war es nur möglich, dass das Leben quasi über Nacht eine vollkommen andere Richtung nahm? Es schien unmöglich. Letzte Woche noch war sie Lady Amelia Willoughby gewesen, die Verlobte des Duke of Wyndham. Und jetzt war sie …
Lieber Himmel, es war beinahe komisch. Sie war immer noch Lady Amelia Willoughby, Verlobte des Duke of Wyndham.
Trotzdem war alles anders geworden.
Sie war verliebt. Möglicherweise in den falschen Mann. Erwiderte er diese Liebe? Sie wusste es nicht. Er mochte sie, dessen war sie sich sicher. Er bewunderte sie. Aber liebte er sie auch?
Nein. Männer wie Thomas verliebten sich nicht so schnell. Und wenn sie es taten – wenn er es tat, dann nicht in eine Frau wie sie, die er schon sein Leben lang kannte. Wenn Thomas sich über Nacht verliebte, dann in eine schöne Fremde. Er würde sie auf der anderen Seite eines überfüllten Saals sehen, die Liebe würde ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen, er würde wissen, dass er seinem Schicksal begegnet war. Der Liebe, der Leidenschaft.
So würde Thomas sich verlieben.
Falls er sich überhaupt je verliebte.
Sie schluckte, hasste den Kloß in ihrer Kehle, hasste den Geruch in der Kutsche, hasste die Staubflöckchen, die durch den Sonnenschein tanzten.
An diesem Nachmittag hatte sie viel zu hassen.
Ihr gegenüber begann Grace sich allmählich zu regen. Amelia sah ihr zu. Tatsächlich war es faszinierend, jemand anderem beim Aufwachen zuzuschauen; sie glaubte nicht, dergleichen je beobachtet zu haben. Endlich öffnete Grace die Augen, und Amelia sagte leise: „Du bist eingeschlafen.“ Dann legte sie den Finger auf die Lippen und deutete mit dem Kopf zur Herzoginwitwe.
Grace unterdrückte ein Gähnen und fragte dann: „Was glaubst du, wie lange dauert es noch, bis wir da sind?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Stunde? Zwei?“ Seufzend lehnte sie sich in die Polster zurück und schloss die Augen. Sie war müde. Sie waren alle müde, aber in diesem Augenblick wollte sie nur an sich und ihre eigene Erschöpfung denken. Vielleicht könnte sie ein bisschen schlafen. Warum fiel es manchen Leuten nur so leicht, in Kutschen einzunicken, während andere – zu denen vor allem sie gehörte – zum Schlafen immer auch ein Bett brauchten? Das war nicht gerecht, und …
„Was wirst du tun?“
Grace hatte ihr diese Frage gestellt. Und sosehr Amelia auch Unwissenheit vorschützen wollte, brachte sie es doch nicht fertig. Es spielte auch keine große
Weitere Kostenlose Bücher