Verfuehrt zur Liebe
O. über die Türschwelle.
Auf der Schwelle blieb sie jäh stehen unter dem Vorwand, ihren Schal zu richten. »Schauen Sie nicht so finster drein«, sagte sie mit gedämpfter Stimme zu ihm. »Ich kann nichts auf der anderen Seite des Zimmers erkennen - wie will ich wissen, ob sie da ist oder nicht?«
Und während sie wieder seinen Arm nahm, stieß sie ihm verstohlen mit dem Ellbogen in die Rippen. »Und ich schlafe immer furchtbar fest... als Bewacherin bin ich eigentlich ganz schlecht zu gebrauchen, jetzt, wo ich darüber nachdenke.«
Simon gelang es, sich so weit zu beherrschen, sie nicht verdutzt anzustarren. Er wusste seit Langem, dass sie eine unverbesserliche Ehestifterin war, und meistens einfach nur unverbesserlich, doch die Vorstellung, dass sie ihm tatsächlich helfen könnte, dass sie seine Werbung um Portia tatkräftig unterstützen würde ...
Sie erlaubte ihm, ihr in den Stuhl zu helfen, dann entließ sie ihn mit einem Winken. Als er um den Tisch herum zu dem leeren Platz neben Portia ging, den Stuhl zurückzog und auf ihren dunklen Schopf blickte, den sie in einem trotzigen Winkel hielt, der ihm nur zu vertraut war, musste er daran denken, dass es doch nicht das Schlechteste war, Lady O. auf seiner Seite zu haben.
Besonders gerade jetzt. Außer allem anderen war Lady O. sehr praktisch veranlagt; man konnte sich darauf verlassen, sie würde darauf beharren, dass Portia sich vernünftig benahm. Sicher.
Er setzte sich und nahm seine Serviette auf, schaute zu Portia. Er ließ sich von dem Lakai auftun. Er - sie - waren noch nicht auf sicherem Boden, aber er war sich seiner Sache schon viel sicherer als je zuvor seit dem Zeitpunkt, an dem er Portia von seinem wahren Ziel unterrichtet hatte.
Als sei es einstimmig beschlossen worden, änderte sich der Ton der Hausgesellschaft merklich. Während Portia im Empfangssalon ihren Tee nippte, konnte sie nicht umhin festzustellen, dass es Kitty nicht gefallen hätte. Die Atmosphäre war locker wie bei einer großen Familienfeier, aber ohne die sonst dazugehörige Fröhlichkeit; die Anwesenden fühlten sich wohl in der Gesellschaft der anderen und schienen ihre Masken fallen gelassen zu haben, als meinten sie, die Umstände entschuldigten sie und entbänden sie von gewöhnlichen gesellschaftlichen Regeln.
Die Damen hatten sich hierher zurückgezogen; niemand erwartete, dass die Herren später zu ihnen stoßen würden. Man saß in Gruppen zusammen und unterhielt sich leise. Es wurde nicht gelacht, keine aufregenden Geschichten wurden erzählt -die Gespräche plätscherten einfach sanft dahin.
Dazu gedacht, die Schrecken von Kittys Tod und alles, was damit einherging, verblassen und in den Hintergrund treten zu lassen.
Die Hammond-Schwestern waren noch blass, hatten aber begonnen, sich zu erholen; Lucy Buckstead war darin schon ein bisschen weiter. Winifred in ihrem Kleid aus dunklem Marineblau, einer Farbe, die ihr nicht wirklich stand, sah bleich und mitgenommen aus. Mrs. Archer war gar nicht erst zum Dinner nach unten gekommen.
Sobald sie ihren Tee ausgetrunken hatten, erhoben sich alle und zogen sich auf ihre Zimmer zurück. Es schien eine unausgesprochene Übereinkunft zu bestehen, dass sie alle Kraft brauchen würden, um sich dem zu stellen, was der morgige Tag und Stokes’ Fragen bringen würden. Einzig Drusilla hatte daran gedacht, Portia zu fragen, wie Stokes war und ob sie ihn für fähig hielt. Portia hatte geantwortet, dass es ihr schon so schiene, aber es gäbe doch allem Anschein nach nur so wenig Beweise, dass der Fall am Ende ungelöst bleiben könnte.
Drusilla hatte das Gesicht verzogen und war gegangen.
Als sie Lady O. zu ihrem Zimmer brachte, bemerkte Portia, dass die angedrohte Liege tatsächlich vor dem leeren Kamin aufgestellt worden war, auf der anderen Seite des eigentlichen Bettes. Lady O.s Zofe war ihrer Herrin beim Ausziehen behilflich; Portia begab sich zu dem Fensterplatz, und da erst fiel ihr auf, dass ihre Sachen hergebracht worden waren. Ihre Kleider hingen auf einem straff über die Zimmerecke gespannten Seil, ihre Unterwäsche und Strümpfe lagen ordentlich in ihrer Truhe, die offen in der Ecke stand. Sie hob den Kopf und entdeckte ihre Bürsten und Haarnadeln, ihre Parfümflasche und die Kämme fein säuberlich auf dem Kaminsims aufgereiht.
Sie ließ sich auf den weich gepolsterten Sitz fallen und schaute in den dunklen Garten, versuchte dabei eine Ausrede zu ersinnen, die Lady O. schlucken und die ihr erlauben würde,
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