Verfuehrung
Verfall ihrer Stimme oder ihres Publikums beraubte.
»Wohingegen«, fuhr Don Sancho fort, »ältere Menschen als Zuhörer gerne unterschätzt werden. Als ich aufwuchs, war die Person, die über alle Geheimnisse bei Hofe Bescheid wusste, eine ältere Tante, die als Gesellschafterin ihr Leben fristete. Wenn die Menschen sie überhaupt wahrnahmen, dann sahen sie meine Tante als alte Jungfer mit Stickarbeiten, die vermutlich froh war, wenn man ihr gelegentlich ein wenig Klatsch erzählte. Und bevor sie es sich versahen, hatten sie ihr Dinge erzählt, die einzeln betrachtet vielleicht harmlos waren, doch einander ergänzend meine Tante in die Lage versetzten, zu wissen, dass die Königin für ihren Sohn die alten spanischen Besitzungen in Italien zurückerobern wollte, ehe der König das erfuhr.«
Mit einem Mal wurde sie sich bewusst, dass Don Sancho bei beiden Mahlzeiten meistens Casanova und ihre Familie hatte reden lassen. Sie fragte sich, was er wohl dabei erfahren hatte, jenseits dessen, was sie hatten erzählen wollen.
»Mitglieder Ihrer Familie zu unterschätzen scheint mir ein Fehler zu sein, den man tunlichst unterlassen sollte«, sagte sie leise. »Aber gerade deswegen frage ich mich, warum Sie ausgerechnet auf meine Wenigkeit Wert legen. Immerhin gibt es zahllose Künstler, die durch ganz Europa ziehen.«
Er musterte sie prüfend. »Sie wollen nun aber keine Komplimente hören?«
»Warum nicht? Das Komplimentemachen aufzugeben wäre ein ernsthafter Verlust für die Menschheit. Wenn die Menschen nicht mehr in der Lage sind, Charmantes zu sagen, dann sieht es in ihrer Gedankenwelt wie in einem verdorrten Garten aus«, versetzte sie leichthin im Plauderton, um noch etwas Zeit zu gewinnen und zu verbergen, wie wichtig ihr seine Antwort wirklich war.
Seine Mundwinkel krümmten sich, und sein kastilischer Akzent trat stärker hervor, als er antwortete. »Sie müssen mehrfach durch die Sonne gehen, um einen Schatten zu werfen, und Sie können von innen heraus lächeln, was äußerst selten ist. So werden Sie gemocht, und die Menschen werden Ihnen vertrauen.«
Das klang sehr schön. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich in diesem Porträt wiedererkannte, aber sie hatte ihn zu einem Kompliment herausgefordert, und er hatte die Herausforderung mit Bravour angenommen. Gleichzeitig hörte sie, was er nicht aussprach: Er hielt sie für jemanden, dem sich die Menschen anvertrauten, nur, um von ihr verraten zu werden.
»Sie machen mich verlegen«, erwiderte sie und meinte damit sowohl das, was er sagte, als auch das, was er wegließ, konnte jedoch nicht widerstehen und fügte hinzu: »Ich wünschte nur, die Impresarios aller Bühnen sähen das ähnlich!«
»Oh, das werden sie«, antwortete Don Sancho, »und deren Auftraggeber. Da ein beträchtlicher Teil davon zu meinem Freundeskreis gehört, kann ich mir diese Prophezeiung erlauben. Ihre Liebenswürdigkeit wird Ihnen in jeder Sprache Zuhörer sichern, selbst, wenn Sie Ihre Fähigkeiten als Sänger verlieren sollten.«
War das immer noch ein Kompliment oder eine ernstgemeinte Prophezeiung?
»Mir scheint, Don Sancho, Sie verfügen selbst über eine solche Liebenswürdigkeit, die Ihnen überall Vertrauen und Freundschaft sichert. Ich spüre die Auswirkung gerade jetzt. Aber genau deswegen, und da geben Sie mir gewiss recht, sollte man keine voreiligen Entscheidungen treffen, die Sie in irgendeiner Weise betreffen. Lassen Sie mich über all das nachdenken, was Sie gesagt haben.«
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann nickte er. »Gewiss. Rimini wird, wie ich schon sagte, wohl kein Ziel für mich sein, doch mich dünkt, Sie hatten Pesaro erwähnt …«
In diesem Moment hegte sie keinen Zweifel daran, dass der Spanier mit seiner altmodischen Ausdrucksweise und seiner Höflichkeit jemand war, der nicht ein Wort vergaß, das in seiner Gegenwart gesprochen wurde.
»Das hatte ich.«
»Dann werden wir uns gewiss dort wiedersehen.«
Petronio war weder auf seinem Zimmer, als sie ihn suchte, noch bei Cecilia, die sie verärgert wissen ließ, dass sie heute Nacht, wo sie das Bett für sich alleine hatte, gerne ungestört schlafen wolle, was hieß, dass Marina schon länger bei Casanova war. Mama Lanti schlief ebenfalls schon. Der Wirt wusste nichts über Petronios Verbleib und der Knecht nur, dass er vor kurzem das Gasthaus verlassen hatte.
Unter anderen Umständen hätte Bellino es dabei belassen. Aber morgen würde sie mit Casanova nach Rimini
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