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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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aufbrechen, und damit hätte sie für die nächste Zeit keine Gelegenheit mehr, mit Petronio unter vier Augen zu reden, denn er würde hier bei Mama Lanti und den Mädchen bleiben und erst später nachkommen. Vielleicht gab es keinen Grund für ihre Unruhe, aber sie musste jetzt wissen, was er von ihr dachte. Jetzt, wo ihm klar sein musste, dass sie nicht sein Bruder war.
    Sie beschloss, auf ihn zu warten. Offenbar hatte sie mehr Champagner und Wein getrunken, als sie hätte tun sollen, denn sie glitt sehr schnell in einen tiefen Schlaf und merkte erst, dass sie in Kleidern auf Petronios Bett lag statt im Nachthemd in dem ihren, als er sie wachrüttelte.
    »Was tust du hier?«, fragte er erbost. Sie blinzelte und brauchte einen Weile, bis sich ihre Augen an das fahle Licht gewöhnten, das vom Gang und durch das Fenster drang. Konnte es denn schon Morgengrauen sein?
    »Ich wollte mit dir sprechen«, sagte sie schlaftrunken.
    »Ich will aber nicht mit dir sprechen. Bellino«, erwiderte er mit einer vielsagenden Pause zwischen der Feststellung und ihrem Namen. Je besser sie sehen konnte, desto mehr konnte sie erkennen, dass seine Lippen geschwollen waren und sein Hemd aufgerissen. Außerdem stank er nach Alkohol. Nicht nach Don Sanchos teurem Wein, sondern nach Schnaps, wie ihn die Seeleute und Hafenarbeiter tranken, als sie mit Casanova die Schiffe besichtigt hatte. Ging nicht auch ein leichter Fischgeruch von ihm aus? Bestimmt war er am Hafen gewesen. Er kniete auf dem Bett neben ihr und sah sie an.
    »Ich dachte – manchmal wenigstens –, manchmal war ich sicher, dass du es schon weißt«, stammelte sie.
    »Dass Mama es schafft, noch Gewinn aus Bellino zu schlagen, selbst wenn er tot ist? Tja, das hätte ich wohl wissen müssen.«
    In ihr Schuldbewusstsein mischte sich Ärger. »Ihr habt alle Gewinn daraus geschlagen, dass es Bellino noch gibt. Du auch. Also …«
    Tu nicht so und lass es nicht an Mama aus, wollte sie fortfahren, doch er missverstand sie und stieß sie zur Seite. »Du – nie hab ich –, weißt du eigentlich, wie oft mich Kerle und Weiber gefragt haben, ob ich ihnen nicht meinen lieben Bruder ins Bett legen kann? Mir noch mehr Geld angeboten haben, wenn ich dich überrede, auch dazuzukommen? Immer habe ich nein gesagt! Und jetzt, jetzt …«
    »Es tut mir leid!«
    »Dir tut es leid«, sagte Petronio und lehnte sich an die Wand, an der sein Bett stand. »Was denn? Dass du dich verplappert hast mit Neapel, das tut dir leid. Sollte es auch. Dir tut’s nicht leid, dass mein Bruder tot ist, denn du hast ihn ja gar nicht gekannt, und du bist froh, dass sein Name dir die Möglichkeit gibt, aufzutreten und rumzutirilieren. Dir tut’s nicht im Geringsten leid, dass ich mir immer wieder gesagt habe, Petronio, natürlich hat er sich verändert, es ist Jahre her, und ihm fehlt nun mal was da unten, bilde dir nichts ein und pass auf ihn auf, ihm wurde schon böse genug mitgespielt, er ist dein Bruder. Dir tut’s nicht leid, dass ich jetzt erst weiß, dass mein Bruder schon lange tot ist und ich nie um ihn getrauert habe. Dir tut nur leid, dass alles jetzt nicht mehr so bequem für dich ist, gib das doch zu!«
    Es wäre weniger schlimm für sie gewesen, wenn er sie geohrfeigt hätte, denn dann hätte sie sich wehren und rechtschaffen empört sein können. Aber so musste sie sich eingestehen, dass das, was er sagte, zum größten Teil stimmte. Sie hatte in den Jahren bei der Familie Lanti selten an den ersten Bellino gedacht und sich nie gefragt, ob seine Geschwister nicht ein Recht darauf hatten, zu wissen, dass der Junge tot war, ein Recht, um ihn zu trauern, vor allem Petronio, der die meisten Erinnerungen an ihn hatte. Und sie würde auch jetzt nicht darüber nachdenken, wenn sie nicht schlicht und einfach einen Fehler bei der Unterhaltung gemacht hätte.
    »Ich hatte keine Geschwister. Vorher. Sie sind alle Fehlgeburten gewesen oder kurz nach der Geburt gestorben. Aber dann seid ihr meine Familie geworden und …«
    »Familie!«, schnaubte er verächtlich. Es schnitt ihr ins Herz.
    »Du bist mein Bruder«, sagte sie stockend. »Bitte. Wir teilen kein Blut, aber – du bist mein Bruder. Nimm mir das nicht weg.«
    »Weil es darum geht, was schlimm für dich ist, nicht für mich«, gab er scharf zurück.
    »Weil ich …« Warum war es nur so schwer, selbst in diesem Zusammenhang, die Worte auszusprechen? Es sang sich doch alles so leicht. Aber wenn sie es nicht sagte, dann würde sie niemals mehr

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