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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Körper hätte ich bestimmt nicht, wenn ich nicht als Junge kastriert worden wäre. Ich hätte einen Körper wie andere auch. Und was habe ich dafür vorzuweisen? Noch nicht einmal eine große Karriere. Ich habe mich nach zwei der großen Kastraten des letzten Jahrhunderts genannt, den Brüdern Atto und Francesco Melani. Sie haben für französische Könige und österreichische Bischofsfürsten gesungen und wurden beide in ganz Europa geliebt. Ich, ich bin aus den italienischen Staaten nie hinausgekommen. Gut, dachte ich, wir schaffen es nicht alle, aber lass mich wenigstens der Lehrer eines großen Kastraten sein. Herr, ist das zu viel verlangt? Und Gott macht sich einen Witz mit mir. Er macht mich zum Lehrer eines Weibs!«
    Mit jedem Satz hatte sich seine hohe Stimme gesteigert, war durchdringender geworden, und nun sprach er laut genug, um über drei Straßen hinweg gehört zu werden. Dabei liefen ihm echte Tränen über die Wangen. Er hatte sie selbst genau wie vorher Appianino gelehrt, Erschütterungen zu spielen, und daher wusste sie, dass er jetzt nicht übertrieb, nicht für sie als seinem einzigen Publikum. Dieser Verzweiflungsschrei kam ihm aus dem Herzen. Es tat ihr weh, und sie wünschte sich, sie könnte ihm entweder einen anderen Körper oder eine große Karriere geben. Sie wünschte sich, sie könnte ihn umarmen, und er würde es zulassen.
    Gleichzeitig jedoch gab es auch eine kühle, gnadenlose Stimme in ihr, die sagte, dass er vielleicht mehr Erfolg gehabt hätte, wenn er so überzeugend wie gerade jetzt auch auf der Bühne gewesen wäre. Dass andere Kastraten hager blieben und er sich jedes Pfund angegessen haben musste. Dass es Neid war, der aus ihm sprach, darauf, dass sie noch eine Zukunft hatte und dass es das Aufführungsverbot für Frauen war, welches seinen Zustand erst geschaffen hatte, was ebenfalls für sie ein Grund hätte sein können, Kastraten ihren Erfolg zu missgönnen.
    »Gott macht Sie zu jemandem, der einer Stimme die Möglichkeit verschafft hat, Ihre Lehrmethoden überall in der Welt zu würdigen«, sagte sie schließlich und versuchte, ihren widerstreitenden Gefühlen Herr zu werden. »Welcher Lehrer kann mehr verlangen?«
    »Überall in der Welt, wie? Das sagst du und kommst hier viel später an als erwartet, weil du mit irgendeinem Schönling aus Venedig im Heu gelegen hast!«
    »Ich glaube, Heu war nicht dabei«, sagte Calori, weil sie nicht anders konnte. Giacomo hatte in dieser Beziehung auf sie abgefärbt. »Laken, Teppiche und Fußböden und einmal auch ein Tisch, aber Heu …«
    »Das ist nicht komisch!«, stieß Melani hervor, aber seine Tränen waren versiegt, und seine Mundwinkel zuckten. »Wie oft hast du in den letzten Tagen geübt, eh? Hat der feine Herr dich schon gebeten, die Bühne aus Liebe zu ihm aufzugeben? Das wird er nämlich, verlass dich darauf. Das tun sie alle.«
    »Er ist kein feiner Herr, und er wird mich ganz bestimmt nicht darum bitten, weil er nämlich derzeit keine Einkünfte hat, im Gegensatz zu mir, solange ich meinen Verpflichtungen nachkomme«, gab Calori zurück, was sie um die Beantwortung der eigentlichen Frage brachte. Denn sie war wirklich nicht sehr oft zum Üben gekommen, ehe sie Giacomo verlassen hatte.
    »Ein Schmarotzer!«, stöhnte Melani. »Ein Schmarotzer wird von der Stimme leben, die ich geschmiedet, die ich ausgebildet habe. Die Felsen durchdringt und Vögel vor Neid erblassen lässt. Alles für einen Weiberhelden!«
    Sie stieß sofort nach. »Dann glauben Sie also auch, dass ich mit etwas Glück von meiner Stimme gut genug leben kann, um uns beide zu ernähren?«
    Melani barg seinen Kopf in den Händen. Als er wieder aufschaute, wirkte er gefasster. »Glück hilft manchmal, Arbeit immer, das weißt du. Damit bringst du auch die Hälfte deiner elenden Familie noch durch, wenn du jemanden hast, der ordentlich für dich verhandelt. Ist dieser Kerl wenigstens gut darin?«
    »Er ist sehr beredt, aber ich weiß nicht, ob er sich in diesen Dingen auskennt«, sagte Calori. »Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie mir in dieser Beziehung weiter beistehen würden, Maestro.«
    »Ich?«
    »Wer könnte es besser und hätte mehr Erfahrung, mehr Geschick dazu?«, fragte sie, und an seinem wechselnden Mienenspiel sah sie, dass die Worte Balsam für seine Seele waren. Dabei hatte er sie selbst das Schmeicheln gelehrt. »Kein Impresario und Direktor könnte Sie überlisten. Sie müssten alle vor Ihnen zu Kreuze kriechen.«
    »Wenn du Erfolg

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