Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
wenn du als Komödiant gut genug bist, dann kannst du eine große Anzahl von Menschen glauben lassen, du wärest einer. Ob du nun als Rechtsverdreher reüssierst oder Geistlicher wirst, wie das deiner Großmutter vorschwebt, du wirst immer Menschen beeindrucken müssen, und nur, wenn dir das einigermaßen gelingt, wirst du in deinem Gewerbe nicht untergehen. Die erfolgreichsten Menschen waren zu allen Zeiten und in den meisten Fällen immer solche mit der größten Beredsamkeit. Daran solltest du arbeiten. Das ist alles an Rat, was ich dir mitgeben kann.«
    Er schwieg und fühlte sich beinahe wieder wie das Kind in jenen ersten acht Jahren, die er sich mit allen Kräften bemühte zu vergessen, das Kind, von dem jeder erwartet hatte, dass es starb, und das jeder für dumm hielt, weil es sich weigerte zu sprechen. Das Kind, dem die Mischung aus sehnsüchtigem Verlangen nach seiner Mutter und aus Groll, weil für sie der Applaus und die Bewunderung der Massen wichtiger waren als er, die Kehle zuschnürte. Damals war er stumm geblieben, weil er sie zwingen wollte, ihn nach dem Warum zu fragen. Er wollte sie zwingen, Zeit für ihn zu haben, um ihn zum Sprechen zu verlocken. Aber sie hatte es nie getan. Beredsamkeit? Kein Student Paduas war so wortgewandt wie er, und er hätte es ihr beweisen können, aber wozu? Sie konnte es doch offenbar kaum erwarten, ihn ein weiteres Mal zurückzulassen.
    Das ist mir gleich, sagte sich Giacomo, während etwas Verräterisches in seinen Augen brannte. Gleich, gleich, gleich. Er war kein Kind mehr, das hatte Bettina ihm gerade gezeigt, und er hatte sich vorgenommen, nicht mehr nur der Verführte, sondern der Verführer zu sein. Dafür würde er beredsam werden, wie es die Zanetta soeben gesagt hatte.
    Der Blick seiner Mutter wanderte wieder zu seinem Lehrer, und sie schnalzte ein weiteres Mal mit der Zunge.
    »Sie haben immer noch nicht nach einem Perückenmacher geschickt, Dottore.«
    * * *
    Eine gefällige Stimme zu haben, so lautete eine weitverbreitete Meinung, gereiche einer Frau zur Zier. Zu mehr war die weibliche Stimme in Städten wie Bologna, die zum Kirchenstaat gehörten, allerdings nichts nütze, denn seit mehr als hundert Jahren hatte die Kirche die Weisung des Apostels Paulus, das Weib solle im Haus Gottes schweigen, in den Kirchenchören umgesetzt. Sehr bald war aus einem Verbot von weiblichen Stimmen in den Chören auch ein Verbot von Sängerinnen bei jeglichen öffentlichen Darbietungen geworden. Daher dachte sich Lucia Calori nichts weiter dabei, als sie herausfand, dass der große Appianino ihre Tochter im Singen unterrichtete, als dass er damit Angiolas Heiratsaussichten hob, ohne sie gleichzeitig zu schädigen. Ein gewöhnlicher Mann wäre für ein Mädchen, das nunmehr gebärfähig war, als Lehrer nicht passend gewesen. Von einem Kastraten stand dagegen nichts zu befürchten.
    Das glaubte sie so lange, bis sie gewahr wurde, dass sich die Flut von parfümierten Briefen, die an Appianino gerichtet in ihr Haus flatterten, ebenso wie die plötzlichen Einladungen, die sie von Kreisen erhielt, die sie früher nie beachtet hatten, ausschließlich dem Umstand verdankten, dass eine beträchtliche Anzahl von Bologneserinnen mehr im Sinn hatte, als nur seiner göttlichen Stimme zu lauschen. Und Appianino verbrachte keineswegs jede Nacht, in der er nicht sang, in Lucias Haus.
    »Signora Calori«, sagte ein Professor für Medizin zu ihr, dessen plötzliches Interesse, so hoffte Lucia, eher auf ihren Witwenstand als auf irgendwelche Hausgäste zurückzuführen war, »ich weiß natürlich, dass Ihre Tugend über jeden Verdacht erhaben ist, aber es kann nicht leicht sein, unter einem Dach mit einem schamlosen Kapaun zu leben. Nicht auszudenken, was Ihr Gatte gesagt hätte! Natürlich, die Not zwingt einen zu so manchem, aber ich will doch hoffen, dass er es nicht wagt, Ihre Lage auszunutzen.«
    Sie beeilte sich, das tadellose Verhalten Appianinos ihr gegenüber zu beschwören, und fügte beunruhigt hinzu, gewiss sei doch seine Natur selbst Schutz genug vor jeglichem Fehltritt.
    Professore Falier hüstelte. Er gehörte zu den angesehensten Mitgliedern der Fakultät und war dabei noch ein wenig jünger, als es ihr verstorbener Gatte gewesen war. Halb schuldbewusst, halb hoffnungsvoll befand sie, dass der Professor mit seiner stattlichen Figur, die so gar nicht der eines vertrockneten Gelehrten glich, auch besser aussah. »Bei einem solchen, hm, Eingriff legt zunächst ein Schnitt die

Weitere Kostenlose Bücher