Verfuehrung
zukünftiger Gemahl selbst ein Ohr für Musik hatte und es ihr, anders als ihr Vater, gestattete, die Oper zu besuchen.
Sie lief neben Appianino her und wünschte sich mehr und mehr, in seiner Haut zu stecken und mit seiner Stimme zu singen, auf der Bühne zu stehen, den Beifall der Besucher zu bekommen, berauscht zu sein von dem Respekt und der Anerkennung der Bewunderer.
An jenem Tag gelang ihr auf dem Rückweg nur ein Bruchteil von dem, was er geleistet hatte, und die Menge, die Appianino zugehört hatte, schmolz sehr schnell dahin. Aber sie beschloss, den gleichen Gang von nun an jeden Tag zu machen, alleine, bis sie gut genug war, um es ihm erneut vorzuführen.
Teils, weil sie weniger auffallen würde, teils wegen ihrer geheimen Sehnsucht, einmal so wie Appianino zu sein, suchte sie sich Kniebundhosen, ein Hemd und ein Wams ihres Vaters aus, die ihre Mutter noch nicht versetzt hatte, und sorgte mit Abnähern und einem Gürtel dafür, dass alles einigermaßen passte. Dann band Angiola ihr Haar zu einem Zopf zusammen, wie die ärmeren Männer, die keine Perücken trugen, und stellte fest, dass sie zwar ganz und gar nicht wie ein jüngerer, eleganter Appianino aussah, sondern mehr wie ein Gassenjunge in Wohltätigkeitskleidern, aber auch nicht als Mädchen zu erkennen war, und darauf kam es ihr an.
Einmal begegnete ihr Appianino, der gerade von einer seiner Einladungen zurückkehrte, auf der Straße, noch ehe sie sich im Haus umkleiden konnte. Er stutzte und lachte. Angiola wurde feuerrot.
»Willst du wirklich als Junge durchgehen?«, fragte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Fang damit an, bei deinem Vortrag nicht so ernst auszusehen. Was wir von der Sonne lernen können, ist, dass sie strahlt, wenn sie erscheint. Halte es ebenso. Außerdem genügt es nicht, Hosen zu tragen. Männer gehen anders als Frauen. Das ist das Erste, was wir lernen, wenn wir weibliche Rollen einstudieren.«
»Ich würde Sie niemals für eine Frau halten, Maestro, und ich habe Sie oft genug im Kostüm gesehen«, entgegnete Angiola spitz. Damit schien sie ihn bei seiner Eitelkeit gepackt zu haben, wie er sie bei der ihren.
»Aber nicht auf der Bühne, dort ist alles anders. Ob Mann oder Frau, da ist Natürlichkeit das Wichtigste und die schwierigste Pose, die man einnehmen kann. Die wahre Kunst bleibt, diese harte Arbeit für das Vollkommene vor allen Blicken verborgen zu halten, sonst wäre Natürlichkeit nicht wirklich glaubhaft«, sagte er. Damit sie begriff, wovon er sprach, lud er sie, ihre Mutter und Professore Falier, der inzwischen fast zu einem Dauerbesucher ihres Hauses geworden war, zu einer Vorstellung der Oper Eumene ein und bezahlte dafür. Ihre Mutter war überglücklich und stürzte sich in neue Schulden, um für sich und Angiola neue Kleider schneidern zu lassen. Der erste Teil des Abends war für Angiola unangenehm, denn Professore Falier tätschelte ihr wiederholt die Hand, wohl, um sich bei ihrer Mutter einzuschmeicheln; seine eigene Hand war jedoch heute sehr feucht. Dann begann die Vorstellung, und die Menschen, die nicht mit Karten oder Würfeln spielten, wurden ruhig genug, damit man dem Geschehen auf der Bühne folgen konnte. Angiola wusste, dass Appianino für gewöhnlich die Heldenrollen sang und nur noch in Ausnahmefällen die Frauenrollen, da er sich bereits den dreißig näherte und diese in der Regel von den jüngeren Kastraten gesungen wurden. Aber heute Abend war er die Heldin, nicht der Held, trug statt eines riesigen Federhuts eine kunstvoll aufgetürmte Perücke und das rotgoldene Kleid, in dem sie ihn schon einmal gesehen hatte. In der Tat bewegte er sich anders, als er es in Hosen tat, dachte Angiola erstaunt. Dann begann er zu singen, und sie sah, dass er sich auch anders in Positur stellte. Held oder Heldin, in jedem Fall sang er zum Publikum hin, nicht zu den anderen Darstellern, aber als Frau hielt er die Arme ausgebreitet, wie um jemanden einzuladen, statt sie in die Hüften zu stemmen, wie sonst. Angiolas Mutter seufzte andächtig.
»Ich muss zugeben, wenn ich nicht wüsste …«, murmelte Falier. Dabei streckte er schon wieder die Hand aus, aber diesmal war Angiola schneller und hob den Fächer, den sie heute zum ersten Mal tragen durfte.
Die Regeln für die Arienverteilung in einer Oper, hatte ihr Appianino erklärt, waren sehr streng. Jeder der drei Hauptfiguren musste fünf Arien singen, zwei im ersten Akt, zwei im zweiten und eine im dritten. Der Zweite Kastrat durfte nur
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