Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
Kanäle frei, die zu den Hoden führen, dann wird der Samenleiter herausgezogen und durchtrennt. Das sorgt für Unfruchtbarkeit und natürlich für die Stimme, die der Zweck der ganzen Unternehmung ist, da die Stimmbänder nicht mehr wachsen. Aber der Eingriff vernichtet nicht völlig den Trieb zur Liebe. Außerdem ejakuliert ein Kastrat nicht, kann dadurch keine Kinder zeugen und er soll ihm«, er hüstelte erneut, »länger stehen. Und dann, und ich würde nicht wagen, so direkt zu sein, wenn Sie nicht eine glückliche Ehezeit erlebt hätten, gibt es wahrlich mehr als einen Weg, um das schöne Geschlecht glücklich zu machen. Sie wissen schon, was ich meine!«
    »Gewiss«, flüsterte sie und wusste nicht, ob sie sich über seine Offenheit freute oder sie verstörend finden sollte. In jedem Fall war es erfrischend anders, nach all den Jahren, in denen ihr Gatte nicht einmal in der Lage war, sie zu fragen, ob sie gerade ihre Tage hatte, ohne sich in umständlichen Umschreibungen zu ergehen. Andererseits war Faliers Erklärung alles andere als beruhigend, was ihre Tochter und den Kastraten betraf. In Erinnerung an ihren Mann und einige Erfahrungen mit Männern, die sie nach seinem Tod getröstet hatten, sagte sie sich, dass man Angiola wohl eher früher als später verheiraten sollte. Wenn sie erst eine zweite Ehe für sich selbst arrangiert hatte.

    Es gab Wochen, in denen Angiola die Vokale I und E hasste. Sie verstand nicht, warum es so viel schwerer sein sollte, diese zu singen, als sie ganz normal auszusprechen. Dann wieder fragte sie sich, ob alle Gesangsübungen nur die Rache dafür sein sollten, dass sie Appianino überhaupt um Unterricht gebeten hatte. Vielleicht aber war es für ihn auch ein Zeitvertreib wie der einer Katze, die endlos mit der hilflosen Maus spielte.
    Aber dann gab es Momente, in denen sie wusste, dass ihr die klare Artikulation gelungen war. Einmal geleitete Appianino sie durch das Portico di San Luca, den längsten Arkadengang in Bologna, der erst vor zwei Jahren vollendet worden war. Er erstreckte sich von der Porta Saragozza über zweieinhalb Meilen bis zum Santuario della Madonna di San Luca, hatte sechshundertsechsundsechzig Bogen. Trotz der ständigen kleinen Treppenaufgänge, wenn Straßen kreuzten, forderte Appianino sie auf, das einfache Thema, das er ihr zu Beginn ihres Spaziergangs vorgab, zu varieren, bis sie alle sechshundertsechsundsechzig Bogen hinter sich gelassen hatten.
    »Die Kunst eines Sängers«, sagte Appianino, »liegt in der Verzierung, der Improvisation, der fioriture, zu seinen Liedern. Musik lässt sich nun einmal nicht nach ihren Noten messen. Die Komponisten geben uns nur eine einfache Skizze vor. Sängen wir nichts anderes, und alle dasselbe, so wäre das Ergebnis für die Zuhörer leblos und langweilig. Der Grund, warum der Kaiser mich nach Wien geholt hat, warum der große Farinelli in London zum Gott erklärt wurde und warum bei einem Streit zwischen Sänger und Komponist noch jedes Mal der Sänger gewonnen hat, ist der, dass jeder Vortrag eines wahren Künstlers einzigartig ist und nicht wiederholbar. Niemand weiß vorher, welche Kadenzen wir verwenden werden. Je mehr Unerwartetes in eine Kadenz gebracht wird, desto schöner ist sie, aber perfekt erst, wenn man nichts mehr weglassen kann.«
    Wie sich das eben Gehörte damit vereinbaren ließ, dass er sie immer tadelte, wenn sie nicht den rechten Ton traf, sei es bei ihrem Gesang oder auf seinem Spinett, das wusste sie nicht. Was machte nun einen wahren Künstler aus: nach Vorschrift zu singen oder nach seinem eigenen Gutdünken Töne zu erschaffen?
    »Über zweieinhalb Meilen hinweg? Treppauf, treppab?«
    »Ich kann es.«
    Sie haben Jahre in einem Konservatorium in Neapel bei dem berühmtesten Gesangslehrer Europas hinter sich, dachte Angiola rebellisch, aber sie hatte einmal damit geprahlt, seine Kunst lernen zu können, und in weit kürzerer Zeit als er, deswegen kamen solche Einwände jetzt nicht in Frage.
    »Dann singen Sie auf dem Hinweg, Maestro«, sagte sie stattdessen keck, »und wenn es Ihnen wirklich gelingt, werde ich es auf dem Rückweg tun.«
    Das brachte ihn zum Lachen, und obwohl er grummelte, »es hilft dir nicht, wenn ich tue, was du tun sollst«, nahm er sie beim Wort. Eine Arie, das wusste sie inzwischen, bestand auf dem Notenblatt aus drei Teilen, und der dritte, der geschrieben wie eine Wiederholung des ersten wirkte, war der Teil, bei dem ein Sänger seine Kunst beweisen musste. Sie

Weitere Kostenlose Bücher