Verfuehrung
glaubte Appianino, dass er etwa seine Lieblingsarie aus der Oper Cesare in Egitto, mit der er in Mailand triumphiert hatte, ohne weiteres über einen beträchtlichen Zeitraum ausdehnen konnte, vielleicht sogar eine Viertelstunde lang, doch gewiss nicht bis zum Santuario.
Er nahm drei Sätze und eine einfache Melodie, warf sie in die Höhe wie ein Jahrmarktskünstler seine Bälle und spielte mit ihnen, schnell, langsam, wirbelnd, werbend, und bereits an der ersten der fünfzehn Kapellen, die es zwischen dem Tor und dem Ziel gab, hatte sich eine Traube von Menschen gebildet, die ihnen folgte. Angiola war selbst zu gefesselt, um auf die Zuhörer zu achten. Wenn sie ihm zuhörte, dann war ihr, als ob alles, was an ihrem Leben seltsam und ungewiss war, keine Bedeutung mehr hatte. Ihr Körper, der sich täglich mehr zu verändern schien, ihre Mutter, die ihr entweder merkwürdige Fragen stellte oder überhaupt keine Zeit mehr für sie hatte, ja, selbst die Damen, die ihr manchmal Botschaften für Appianino in die eine und Zuckerwerk in die andere Hand drückten, was sie mehr verärgerte, als gerechtfertigt war, alles schien in Bewegung, wenn er sang. Alles ergab auf einmal einen Sinn und destillierte ihre Gefühle von einem merkwürdigen Durcheinander zu reiner Schönheit, wie ein Bergbach, der zu einem Wasserfall wird.
Dabei war Appianino sonst keineswegs ein überirdisches Wesen. Er kratzte sich, schneuzte sich und benutzte seinen Nachttopf wie andere Menschen auch, und wenn er über den zweiten Kastraten im Theater schimpfte, der es gewagt hatte, vier statt der vorgeschriebenen drei Arien für sich zu verlangen, war Neid erkennbar. Gab es gar Kritiker, dann behauptete er, anders als von großen Künstlern habe er noch nie ein Denkmal oder ein Bild eines solchen gesehen, und hielt sich in Fragen des Gesangs ohnehin für unfehlbar. Er konnte also genauso eifersüchtig und kleinlich sein, wie sie sich selbst manchmal vorkam, wenn sie ihn umgeben von Fackelträgern und Bewunderern in seinem prächtigen Kostüm mit dem üppigen Federhut zur Oper eilen sah.
Bei ihr war der Grund für diese Gefühle nicht nur, dass Angiola sich wünschte, er würde mehr Zeit mit ihr und weniger mit seinen Bewunderern verbringen. Sie wusste vielmehr, welch ein Glück sie hatte, dass er aus einer Laune heraus überhaupt Zeit mit ihr verbrachte und ihrer Mutter keine Bezahlung dafür abverlangte. Nein, es kam noch etwas anderes hinzu: Sie wünschte sich manchmal, sie selbst könnte Appianino sein.
Er war reich, und er hatte sein Geld selbst erworben; es war ihm nicht geschenkt worden. Er hatte die Welt gesehen. Er wurde bewundert und geliebt, wohin er kam. Und wenn es hier und da ein paar ältere Bürger und ein paar Gassenjungen gab, die ihm hinterherpfiffen und etwas von »Kapaun!« und »unnatürlich« schrien, was tat das schon? In der Oper waren die Schreie ganz anders: »Lang lebe das Messer, das gepriesene Messer«, schrien sich die schönsten Frauen ihre Stimmbänder in der Hoffnung wund, ihm aufzufallen. Er hatte die Schönheit selbst in seiner Kehle. Auch wenn er eines Tages alt sein würde und nicht mehr der große, schneidige Mann, dem jene Damen mit den Gedanken an das Messer und dem Zuckerwerk für sie hinterherseufzten, seine Stimme würde er behalten.
Ihr eigenes Gesicht überzog sich mittlerweile allmonatlich mit Pickeln. Ihre widerspenstigen schwarzen Locken ließen sich auch mit viel Öl nicht glätten, und obwohl sie mittlerweile eine Perücke tragen durfte, schien immer ein Stück ihres wirklichen Haares hervorzuschauen. Ihre Wangen waren ihr zu pausbäckig, und ihre Nase, statt sich wie die seine schön und gerade zu halten, strebte mit einem kleinen Stups in die Höhe. Einmal, als er ein Frauenkostüm trug und sich für die Rolle zurechtmachte, dachte Angiola, dass sie im Vergleich wie ein Gassenjunge wirkte, der sich in Frauenkleider verirrt hatte. Und selbst wenn sie aus alldem herauswuchs, wenn sie einmal zierlich und adrett wie ihre Mutter wirken würde, so erwartete sie doch nichts anderes, als mit einem jener alten Professoren von der Universität verheiratet zu werden, die ihre Mutter jetzt auf einmal wieder einluden, nachdem sie nach dem Tod des Vaters jede finanzielle Hilfe versagt hatten. Gutherzige Menschen gab es hier in der Stadt immer nur, solange man sie nicht um etwas bitten musste, war ihre traurige Erkenntnis gewesen. Sie würde Bologna auch nie verlassen und von Glück reden können, wenn ihr
Weitere Kostenlose Bücher