Verfuehrung
ihr Handgelenk. Wie er ihren Unterarm nahm und mit seiner Zunge leicht neckend über ihre Haut fuhr, ehe er einen wirklichen, festen Kuss darauf presste, sie fast biss …
Die Tür öffnete sich, und Angiola, ihre Hand gegen den eigenen Mund gepresst, wurde von der Wirklichkeit eingeholt.
Er stand im Türrahmen, in Männerkleidung, doch seine Haltung war immer noch die einer Frau.
»Was tust du hier?«, fragte er leise.
All ihre vorbereiteten Reden waren ihr entfleucht. »Fioriture«, flüsterte sie, weil es das erste Wort war, das ihr einfiel, und noch während es ihre Lippen verließ, schien es immer passender zu werden. Verzierungen. Improvisation.
Er schloss die Tür hinter sich, und sie machte einen Schritt auf ihn zu, einen weiteren, und ehe sie es sich versah, hatte sie ihn erreicht. Sie roch das Jasmin seiner Haarpomade und ein fremdes Parfüm. Vielleicht war es das, was ihr den Mut gab, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, ihre Arme um seinen Hals zu legen und ihn ungelenk und heftig auf den Mund zu küssen.
Sein Mund war härter, als sie es erwartet hatte, und schmeckte ein wenig nach Wein und Nougat. Er stieß sie nicht zurück. Nach einem Moment des Zögerns erwiderte er ihren Kuss, und sie fühlte sich, als sei es ihr gelungen, das hohe C genauso lange zu halten wie er. In diesem Moment schien alles möglich. Dann löste er sich von ihr.
»Du bist noch zu jung«, sagte er heiser.
»Es gibt Tausende Mädchen, die in meinem Alter schon verheiratet sind«, sagte Angiola, was übertrieben war. Sie wusste nur von zweien, und von diesen auch nur, weil sie in der gleichen Straße lebten. Außerdem war eine von beiden nur verlobt. Aber auch das galt.
Sein Daumen strich über ihre Wangen, glitt sachte über ihre Lippen und unter ihr Kinn.
»In deinem Alter wusste ich schon alles, was es über Körper zu wissen gibt«, murmelte er. »Und deswegen sage ich, du bist zu jung.«
»Aber …«
»Hübsche kleine Jungen sind so gefragt wie hübsche kleine Mädchen.«
Sie wollte ihn sich nicht als kleinen Jungen vorstellen.
»Du hast zugegeben, dass du mich hübsch findest!«, stieß sie triumphierend hervor.
Der Laut, der aus ihm drang, war halb Stöhnen, halb Lachen.
»Weil du mich an mich selbst erinnerst«, sagte er, und nun war es an ihr, halb geschmeichelt wegen des Lobs und halb aufgebracht wegen seiner Eitelkeit zu sein.
»Du brauchst dich nicht wegen meiner Mutter zu sorgen«, sagte Angiola, obwohl ihr das erst jetzt klarwurde. »Sie ist noch einmal fortgegangen. Ich glaube, sie schläft heute auch nicht alleine.«
Der Gedanke an ihre Mutter und Professore Falier war nicht schöner geworden, seit er ihr das erste Mal gekommen war, und sie zog unwillkürlich eine Grimasse, während sie sich auf die Lippen biss. Seine Arme legten sich um sie.
»Dann bleib«, sagte er.
Er tat in jenen ersten Nächten nicht mehr, als sie zu küssen und ein wenig zu streicheln, nur Schultern, Arme und ein- oder zweimal die kleinen Knospen, die erst noch Brüste werden wollten; seine eigenen waren stärker ausgeprägt. Es war schön, aber Angiola wusste, dass es noch unendlich mehr gab, und der Gedanke war angsterregend und eine Herausforderung zugleich, vor allem, weil sie ahnte, dass seine erwachsenen Verehrerinnen viel, viel mehr mit ihm taten.
Was den Gesang betraf, war er so streng wie eh und je, aber das machte sein seltenes Lob umso befriedigender, und sie spürte, wie das ständige Üben ihren Stimmumfang vergrößerte.
»Ich habe schlechtere Stimmen als deine in den Konservatorien gehört«, sagte er eines Tages, »und auf der Bühne in Neapel.«
»Von Jungen in meinem Alter?«
»Von erwachsenen Frauen«, sagte er belustigt, »aber lass es dir nicht zu Kopf steigen. Man soll sich immer nur an den Besten messen, nicht an den Schlechteren.«
»Von Frauen? Aber ich dachte, Frauen dürfen an Opern nicht …«
»Nicht innerhalb des Kirchenstaates. Und da noch nicht einmal auf den Komödienbühnen. Aber Neapel gehört zum Königreich beider Sizilien. Dort wie auch in Venedig, Turin und Florenz gibt es immer schon Erste Sängerinnen genauso wie Erste Kastraten.«
Das war ein neuer Gedanke. Unwillkürlich überlegte sie, wie es wäre, an seiner Seite zu singen. Selbst eines jener prächtigen Kostüme zu tragen, die so schwer waren, dass der tägliche Lauf unter den Kolonnaden zum Santuario ihr gut zustattenkommen würde. Sie stellte sich vor, wie ihrer beider Stimmen sich zu einem Duett vereinigten. Als
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