Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
drei Arien bekommen, und alle weiteren Darsteller nur eine oder allerhöchstens zwei. Zwei Arien gleicher Art durften niemals direkt aufeinanderfolgen, also keine zwei dramatischen Arien, keine zwei Bravourarien, keine zwei halbernsten Arien, und auch keine gehäuften Menuette oder Rondi. Was die leidenschaftlichen Arien betraf, so waren sie ausschließlich das Privileg der Sänger der drei Hauptfiguren.
    »Aber was«, hatte Angiola gefragt, »wenn ein Sänger leidenschaftliche Verzierungen improvisiert? Wenn er ohnehin nur eine Arie für sich hat, dann liegt es doch nahe, daraus das Beste zu machen, was er kann.«
    »Nicht, wenn er danach sofort seine Stellung verliert. Es gibt unzählige Kastraten, die nie ein Engagement bekommen, meine Kleine. Jemand, der gegen die Regeln verstößt, kann umgehend ersetzt werden.«
    Wenn man die Lieder einzeln studierte, dann kam einem das alles sehr streng vor, aber jetzt, wo sie alles hintereinander hörte, fügte es sich auf wundersame Weise zu einem harmonischen Ganzen, obwohl es ständig unterbrochen wurde, wenn Appianino und die anderen Sänger nach dem Vortrag ihrer Arien den Applaus des Publikums entgegennahmen. Als sie das erste Mal selbst applaudierte, hatte Angiola vergessen, dass sie noch ihren Fächer in den Händen hielt, und er fiel ihr zu Boden. Sie bückte sich und bemerkte, dass es Professore Falier während der Vorstellung irgendwann gelungen sein musste, eine seiner Hände unter die Röcke ihrer Mutter und zwischen deren Beine zu schieben. Als Angiola sich rasch und betreten wieder aufrichtete, sah sie, dass ihre Mutter mit halb geöffneten Lippen und Schweißperlen auf der Stirn dasaß.
    Nach der Vorstellung beschloss Angiola zu Hause, in Appianinos Räumen auf ihn zu warten, um ihm zu sagen, dass er wirklich wie eine Frau gewirkt hatte. Sie fühlte sich aufgewühlt und wie eine Wespe im Wespennest. Wenn sie nicht an die Musik dachte, dann daran, dass sie Professore Falier nicht ausstehen konnte, aber wusste, dass es besser für ihre Mutter und sie sein würde, wenn die Mutter sich wieder verheiratete, denn Appianino würde nicht für immer in Bologna bleiben. Der Gedanke daran, dass er zu seinem nächsten Engagement reisen würde, tat weh, und nicht, das musste sie zugeben, wegen der Miete. Dann kamen ihr widersinnigerweise die Damen in den Sinn, die ihr Zettel für Appianino in die Hand drückten, und sie stellte sich unwillkürlich vor, wie diese Damen ihm in die heute so einladend geöffneten Arme sanken. Oder ihm zwischen die Beine griffen, wie Falier das bei ihrer Mutter getan hatte, während er mit der anderen Hand versucht hatte, Angiola zu begrabschen. Irgendwie musste sie sich Luft machen, also begann sie, auf und ab zu gehen, und versuchte, das genauso zu tun, wie sie Männer hatte schreiten sehen. Früher, als sie noch kleiner gewesen war, hatte sie eine Zeitlang fast jeden nachgeahmt, der ihr über den Weg gelaufen war.
    Sie zog einen nicht vorhandenen Federhut, um sich zu verbeugen, reckte das Kinn und wölbte das Becken ein wenig nach vorne. Ja. Ihre Haltung sah jetzt mehr wie die eines Knaben aus, obwohl das seltsam wirkte, jetzt, wo sie wieder ein Kleid trug. Dann stellte sie sich vor, wie ein junger Galan wohl den Arm der schönen Dame nehmen würde, die Appianino heute Abend gewesen war. Sie schob ihre linke Hand durch einen nicht vorhandenen Ellbogen. Nein, der Herr bot der Dame seinen Arm; sie war es, die ihn ergriff.
    »Signorina«, sagte Angiola und versuchte, ihre Stimme zu senken, »Signorina, ich bin Ihr Sklave.«
    Das war ein Satz aus einer der Arien, aber gesprochen statt gesungen hatte er nicht den gleichen Klang. Sie wünschte sich, sie trüge Hosen, dann würde sich die lllusion vielleicht eher einstellen.
    Obwohl es inzwischen sehr spät geworden war, machte Appianino immer noch keine Anstalten, zu erscheinen. Von der Straße unten drang Lärm herauf, aber das war häufig der Fall und musste nicht bedeuten, dass er sich ihrem Haus näherte. Wahrscheinlich verbrachte er die Nacht in einem Palazzo der Stadtpatrizier, dachte Angiola und wusste nicht, warum die Vorstellung sie so wütend machte. Sie streckte ihre Hand aus und stellte sich vor, wie Appianino sie bei ihrer ersten Begegnung an sich gezogen und ihre Hand an seinen Mund geführt hatte. Wie sein Atem ihre Haut erwärmt hatte. Doch anders als in Wirklichkeit geschehen, malte sie sich aus, wie seine Lippen tatsächlich ihre Hand berührten. Wie er ihre Finger küsste. Dann

Weitere Kostenlose Bücher