Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
mag es sehr wohl sein, dass Falier verärgert genug ist, um uns Häscher hinterherzuhetzen, die dich zurückbringen sollen. Schließlich liegt so eine Vermutung sehr nahe, wenn wir gleichzeitig die Stadt verlassen. Deswegen werden wir uns zunächst trennen, und ich werde dir ein völlig neues Leben verschaffen, einen neuen Namen und eine Familie, die schwören wird, dass es sich bei dir um ihren Sohn und Bruder handelt. Du wirst lange genug mit ihnen leben, dass sogar Nachbarn deine Identität beschwören können. Wer mir dann nachreisen und bei mir in Dresden eintreffen wird, wird nicht Angiola Calori sein, sondern ein Kastrat aus Rimini.«
    Die Aussicht darauf, Wochen, Monate, vielleicht sogar ein Jahr getrennt von ihm unter lauter Fremden zu verbringen, behagte ihr gar nicht, aber es war auf jeden Fall besser, als Professore Falier zu heiraten. Außerdem konnte sie nicht umhin, sich vorzustellen, wie ein anderer Musiklehrer, der sie für einen Jungen hielt und nicht durch ständige Engagements abgelenkt war, ihre Ausbildung vielleicht noch schneller vorantrieb, so dass sie Appianino überraschen würde, wenn sie in Dresden einträfe. Nein, es würde eine ganz andere Trennung sein als diejenige, die sie befürchtet hatte: Appianino für immer zu verlieren, und mit ihm jede Aussicht auf ein Leben mit der Musik. Während ihre Mutter sie für einen warmen Platz für sich selbst in Faliers Bett verschacherte, würde ihre Trennung nur das Vorspiel zu einem Leben sein, von dem sie bisher höchstens zu träumen gewagt hatte, ohne wirklich darauf hoffen zu können.
    »Was ist das für eine Familie in Rimini?«, fragte Angiola, weil ihr in den Sinn kam, dass er sie eigentlich sehr schnell aus dem Hut gezaubert hatte. Konnte es sein, dass er schon länger über eine Möglichkeit nachgedacht hatte, wie sie ihr Leben mit ihm und als Sängerin verbringen konnte, und es nur nicht hatte zugeben wollen? Der Gedanke machte sie unsicher, aber gleichzeitig auch unendlich glücklich.
    »In meinem letzten Jahr am Konservatorium in Neapel hatte ich einen kleinen Schützling, der inzwischen in deinem Alter wäre«, sagte Appianino. »Vor zwei Wochen kam ein Brief, dass er gestorben sei, sehr plötzlich. Seine Mutter bat mich um Geld.«
    »Und sie wird mich als ihren Sohn ausgeben, einfach so?«
    »Wie ich schon sagte: Sie braucht Geld«, erwiderte Appianino in seiner von Zynismus gefärbten Sachlichkeit. »Sie hat noch mehr Kinder zu versorgen, einen Sohn und zwei Mädchen. Sie hat sogar angedeutet, dass sie ihren Kleinen auch kastrieren lassen wird, wenn ich ihr nicht helfe. Obwohl er überhaupt keine nennenswerte Stimme besitzt, wie mir sein Bruder einmal sagte.«
    Angiola unterdrückte ein Schaudern und die Frage, ob er wirklich glaubte, dass eine solche Frau eine gute Ersatzmutter für sie wäre, doch es war, als läse er ihre Gedanken.
    »Solange wir Bologna noch nicht verlassen haben, so lange kannst du es dir überlegen«, sagte er.
    »Sie wird mich tun lassen, was ich will? Gesang studieren und dir dann nach Dresden folgen?«
    »Sonst bekommt sie kein Geld mehr von mir«, bestätigte er. »Wenn man auf sonst nichts vertrauen kann, dann immer noch auf die menschliche Gier.«
    Sie wollte nicken und blasiert wie eine Dame der Gesellschaft wirken, aber stattdessen entschlüpfte ihr: »Ich vertraue dir. «
    »Das solltest du nicht«, entgegnete Appianino traurig. »Wenn ich wirklich vertrauenswürdig wäre, dann hätte ich mich dir gegenüber nie anders als ein Lehrer verhalten. Wenn du erst älter bist, wirst du verstehen, was ich meine, und für dann hoffe ich nur, dass du mich nicht hasst.«
    * * *
    »Das hast du nun davon, dass du die Rechte nicht studieren wolltest!«, sagte Giacomos Bruder Francesco und bog sich vor Lachen, was dem Grad von Mitgefühl entsprach, das man in der Familie Casanova füreinander hegte, die Großmutter ausgenommen. Francesco hatte gut reden: Er studierte, was er hochtrabend »Theaterarchitektur« nannte, was hieß, dass er der Lehrling von Bühnenbildnern war, und sein höchster Ehrgeiz war, vom Bepinseln von Kulissen zum Maler von wirklichen Gemälden aufzusteigen.
    Giacomo war fest entschlossen, etwas Besseres zu werden. Was genau, das wusste er immer noch nicht, da sein erster Wunsch, Arzt zu werden, von allen Erwachsenen, die meinten, mitreden zu dürfen, sofort abgelehnt worden war. Das unerträglich trockene Jura-Studium verabscheute er jedoch von Anfang an, und deswegen hatte er im letzten Jahr

Weitere Kostenlose Bücher