Verfuehrung
öffnete, dachte Angiola, dann würde sie schreien, laut schreien und nicht aufhören zu schreien. Also blieb sie stumm und hörte sich die immer unehrlicher klingenden Erklärungen ihrer Mutter an. Schließlich verließ Angiola, immer noch schweigend, das Zimmer. Bis Appianino zurückkehrte, vergingen drei endlose Stunden. Als sie ihn bat, umgehend mit ihr die Kapelle von Santa Cecilia zu besuchen, weil sie völlig vergessen habe, dass heute Abend dort eine Messe von Vivaldi gesungen würde, folgte er ihr wortlos, obwohl er wusste, dass sie dergleichen nie vergessen hätte. Die Kapelle lag in unmittelbarer Nähe des Universitätshauptgebäudes und rühmte sich des schönsten Kirchenchors von Bologna, also akzeptierte ihre Mutter die Erklärung für den späten Ausgang ohne Zögern.
Vielleicht war es ihrer Mutter von nun an auch gleichgültig, wo und wie sie ihre Abende verbrachte, solange sie nur Professore Falier heiratete. Nein, das war ungerecht, so dachte ihre Mutter gewiss nicht. Oder doch?
In der Abenddämmerung schienen ihr die beiden großen Türme, die als einzige von all den Geschlechtertürmen Bolognas noch standen, wie zwei höhnisch zum Fluch emporgereckte Finger hinaufzuragen. Angiola lief tatsächlich auf die Cäcilienkapelle zu, und Appianino stellte keine Fragen, bis sie dort saßen, wo an diesem Abend keine Messe gesungen wurde, sondern nur ein paar alte Frauen ihre Ave-Marias beteten.
»Du musst mich nach Venedig mitnehmen!«, sagte Angiola ohne weitere Einleitung. Sie war viel zu aufgewühlt, um irgendeine Erklärung hinzuzufügen. Er hob eine Augenbraue.
»Ich wüsste nicht, dass ich nach Venedig …«
»Es ist ein Brief gekommen. Aber eigentlich ist es gleichgültig, ob Venedig oder anderswo. Nimm mich nur mit. So bald wie möglich!«
»Angiola«, sagte Appianino behutsam, »du weißt doch, dass es unmöglich ist. Ich kann dich nicht heiraten. Das ist Kastraten verboten, und nicht nur innerhalb des Kirchenstaates. Sogar die Lutheraner in den deutschen Ländern haben ein Gesetz dagegen. Wir dürfen noch nicht einmal mit einer Frau zusammenleben, wenn es sich nicht um eine Verwandte handelt.«
»Das hat dich hier nicht davon abgehalten, mit einem Dutzend Patrizierinnen herumzuschäkern und mich in dein Bett zu lassen«, sagte Angiola, und er ergriff ihre Hände.
»Was ist geschehen?«, fragte er ruhig. Unter Würgen kam die Geschichte von Falier und ihrer Mutter aus ihr heraus wie halbverdautes Essen.
Er legte einen Arm um ihre Schultern und hielt sie fest, während sie endlich der Versuchung nachgab, in Tränen ausbrach und sogar den Verdacht gegen ihre Mutter aussprach, den sie bisher unterdrückt hatte, jedes Mal.
»Tränen reinigen das Herz. Sie sind fast immer Medizin. Niemals können sie Schande sein, weder für eine Frau noch für einen Mann«, sagte er ruhig.
»Ich glaube – ich glaube, sie will ihn noch immer, und sie denkt, wenn wir erst alle zusammenleben, dann will er sie auch wieder.«
»Es sollte mich nicht wundern, wenn er ihr das versprochen hat«, sagte Appianino, ohne sonderlich überrascht zu klingen.
»Aber ich bin ihre Tochter!«, protestierte Angiola, und diesmal entgegnete er nichts. Er sah sie nur an, und es fiel ihr wieder ein, dass ihn seine Eltern verkauft hatten, als er noch jünger als sie gewesen war, und gewiss ebenfalls versichert hatten, es geschehe zum Wohl seiner Zukunft statt zum Wohl ihrer eigenen Gier.
»Nimm mich als deine Schülerin mit«, sagte sie flehentlich. »In Venedig können wir gemeinsam auf der Bühne singen, ist es nicht so?«
»Du bist noch nicht gut genug dafür«, sagte er brutal. »Du musst noch länger ausgebildet werden, noch mindestens zwei Jahre, vielleicht sogar drei.«
»Das werde ich nie bekommen, wenn ich den Liebhaber meiner Mutter heirate«, gab sie zurück und verbat sich, weiter zu weinen. Sie musste ihn überzeugen, und das konnte ihr nur mit der Wahrheit gelingen. »Wenn du mich hier zurücklässt, dann ist es, als ob du mir die Zunge herausschneidest und mir meine Stimme wegnimmst. Als ob du mich verkrüppelst.«
So, wie man dich verkrüppelt hat, aber ohne den Lohn, setzte sie stillschweigend hinzu. Sie musste es nicht laut aussprechen, an seinem Zusammenzucken erkannte sie, dass er wusste, was sie meinte. Es war ein gemeiner Schlag, aber es ging um ihr Leben. Wenn sie ihm schwor, nicht ohne ihn sein zu können, würde er ihr nicht glauben. Er würde ihr sagen, was er schon einmal gesagt hatte, dass sie
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