Verfuehrung
Mittagessen auffiel, war, dass nicht nur Donna Lukrezia, sondern auch ihre Schwester unausgeschlafen aussah, wofür er nur bei der Älteren eine gute Erklärung hatte.
Rosanna begegnete ihm auch an diesem Tag unfreundlich, und er hätte es zu gerne auf Eifersucht zurückgeführt, würde das doch seiner Eitelkeit schmeicheln. Donna Lukrezia erzählte ihm bei einem Spaziergang, den sie um das Haus des Posthalters alleine machen konnten, dass die jüngere Schwester ihr heftige Vorwürfe gemacht habe, als sie zurück ins Bett gekommen war, über Anstand und Moral.
»In ihrem Alter nimmt man diese Dinge eben noch sehr ernst«, sagte sie in einem Gemisch aus Zuneigung und Spott, und er wusste einen Moment lang nicht, ob sie von Rosanna oder ihm selbst sprach. Als ahnte sie, was er dachte, fügte sie mit einem Lächeln hinzu: »Es sei denn, man stammt aus Venedig, mein Freund, wie Sie.«
Es entging ihm keineswegs, dass sie ihn damit immer noch auf eine Stufe mit ihrer jüngeren Schwester stellte, trotz der unterschiedlichen Ansichten.
»In diesem Alter glaubt man, man wisse alles besser, könne alles besser. In dem meines Gatten weiß man vor allem, was man nicht mehr kann. Und in dem meinigen fängt man an, zu verstehen, dass man weder alles weiß noch alles kann. Aber«, endete sie mit einem Augenzwinkern, »man versucht auch, zu entdecken, was einem bisher alles entgangen ist.«
Mit einem schmollenden Mädchen verglichen zu werden, ganz gleich, auf welche subtile Weise, war etwas, das Giacomo nicht auf sich sitzenlassen konnte. Proteste und ein Pochen auf männliche Reife würden ihm jedoch nichts nützen. Also beschloss er, ihr auf andere Weise zu zeigen, dass sie unrecht hatte.
»Ich bin vielleicht zu jung, um den Sokrates zu spielen, aber sein Ausspruch ›ich weiß, dass ich nichts weiß‹ könnte trotzdem auch meiner sein. Ich würde es nur so formulieren: Ich weiß, dass ich noch eine Menge lernen kann – von Ihnen, meine teuerste Lukrezia!«
Damit hatte er sie in der Tat gewonnen. Aus ihrem leicht überlegenen Lächeln wurde ein überraschtes und entzücktes Lachen. Sie küsste ihn und flüsterte ihm ins Ohr, sie könne sich keinen gelehrigeren Schüler wünschen.
Die nächsten beiden Nächte verliefen nicht viel anders als ihre erste Begegnung auf dem Tisch des Speiseraums. Lukrezia hatte einen offenbar lange ungestillten Appetit, und sie genoss es, sie beide bis zur Erschöpfung zu treiben. Einmal glaubten sie sich ertappt, als sie schnaufende Laute durch die Wände hörten, doch wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Igelpaar, das sich unter dem Fenster tummelte und ebenfalls aneinander ergötzte. Als sie im Morgengrauen voneinander ließen, hörten sie immer noch die gleichen schnaufenden Laute, und Giacomo borgte sich Lukrezias hochgezogene Augenbraue aus.
»Igel, die Menschen an Ausdauer übertreffen? Ich weiß nicht, ob ich das als persönliche Herausforderung auffassen soll«, sagte er, und Lukrezia ließ sich lachend gegen seine Schultern fallen. Dann jedoch platzte sie mit einer Nachricht heraus, die alles andere als belustigend war.
»Meine Schwester droht damit, alles meinem Mann zu erzählen, und will ihm sogar berichten, dass ich bisher keine halbe Nacht das Bett neben ihr benutzt habe.«
Er hatte die Nachricht, dass die Straße mindestens noch zwei Tage blockiert sein würde, mit einem inneren Jubilieren vernommen und sofort dem Postmeister das Geld für die ersten drei Tage ausgehändigt. Diese Nachricht trübte seine Freude über die gewonnene Zeit sehr. Er hatte nichts gegen den Advokaten. Manchmal fragte er sich sogar, ob der Mann absichtlich ein Auge zudrückte, im wortwörtlichen Sinn. Aber wenn Rosanna ihre Schwester dem Schwager gegenüber laut beschuldigte, dann würde dies selbst dem duldsamsten Ehemann nicht mehr möglich sein.
»Wird sie denn gleich …«
»Nein. Nur, wenn ich noch eine Nacht mit Ihnen verbringe.«
Der Tag verfloss wie die vorangegangenen mit Spaziergängen, ausgiebigen Mahlzeiten und gelegentlichen Wortgefechten, nur dass Lukrezia diesmal stets ein wenig abgelenkt wirkte. Rosanna zog ihren Schwager nie zu einem Gespräch zur Seite, aber sie ließ Lukrezia auch nie alleine, was Giacomo, der manchmal nicht anders konnte, als in einer gefährlichen Lage noch etwas Öl ins Feuer zu gießen, zu einer Bemerkung veranlasste.
»Donna Rosanna, es verdreht mir natürlich den Kopf, wie sehr Sie meine Gegenwart suchen, aber ich will hoffen, dass Ihr
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