Verfuehrung
Bett man selbst zu sein hoffte, oder sie Fremden in einer Herberge anbot?
Doch, da war ein Unterschied. Sie durfte ihrer Mutter nicht unrecht tun. Ihrer wahren Mutter. Eine Ehe mit Falier, ganz gleich, was für ein Widerling er war, hätte Angiola für ihr Leben – oder wenigstens Faliers Leben – versorgt, und sie wäre in den Augen der Gesellschaft angesehen gewesen. Was Signora Lanti mit Petronio und den Mädchen tat, machte sie zu jemandem, der bei strengen Gesetzeshütern körperlich bestraft und, selbst wenn dies nicht geschah, von jedermann verachtet werden konnte. Eine Ehe war ein Sakrament, Hurerei eine Sünde.
Sie war jedoch nicht mit Appianino verheiratet. Sie konnte es nie sein. War also alles, was sie miteinander getan hatten, dann nicht auch Hurerei?
Bis die Teller getrocknet und die Mädchen aus der Küche geschickt worden waren, hatten sich Angiolas Entrüstung und Verwirrung keineswegs gelegt. Sie wollte Signora Lanti anschreien, aber würde das diese dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern? Es war noch nicht einmal so, dass Angiola ihr damit drohen konnte, sie bei den Obrigkeiten zu denunzieren. Nicht, wenn doch Angiola erst heute wieder auf der Empore der Kirche selbst ein Verbrechen begangen hatte und jeden Tag ein weiteres beging, an dem sie sich als Kastrat ausgab und sang, wo sie nicht singen durfte. Wenn Signora Lanti ihren Mädchen fürsorglich die Nase putzen und gleichzeitig ihren Sohn oder die noch jüngeren Mädchen einem Gast auf sein Zimmer schicken konnte, dann war sie auch in der Lage, Angiola anzuzeigen, wenn sie in ihr mehr eine Bedrohung statt eine Einkunftsquelle erblickte.
Wenn Appianino nach ihr schickte, dachte Angiola, dann konnte sie Petronio und die beiden Mädchen mit sich nehmen. Genügte sein Geld und das, was sie bald selbst verdienen würde, um eine regelrechte Familie zu ernähren? Gewiss. Aber was würde er dazu sagen?
Was, wenn er sein Geld noch mit weiteren Fremden teilen musste, von seiner eigenen Familie im fernen Mailand ganz zu schweigen. Er stand nicht mehr im Schriftverkehr mit denen, so viel wusste sie aus Bologna, aber vielleicht schickte er ihnen trotzdem noch Geld.
»Was kann ich für dich tun, mein Liebling?«
»Wenn ich öfter mit dem Kirchenchor singen kann«, sagte Angiola, »dann bestimmt bald auch auf öffentlichen Konzerten. Und ich werde Geld verdienen. Ich – ich weiß, dass der Maestro Ihnen Geld vorgestreckt hat, Mama, aber ich will mich mit meinen Möglichkeiten gerne an den Haushaltskosten beteiligen.«
»Du guter Junge!«, sagte Signora Lanti gerührt.
»Wenn meine Geschwister dann nichts anderes mehr tun, als den Gästen ihr Gepäck zu tragen und die Zimmer sauber zu machen«, sagte Angiola und bemühte sich, fest und unnachgiebig zu klingen.
Signora Lanti warf ihr einen langen Blick zu und seufzte. »Komm mit mir«, sagte sie und führte Angiola in ihr Zimmer, holte einen Schlüssel aus ihrem Kleid hervor, den sie um den Hals trug, und sperrte die kleine Truhe auf, die dort stand. Dann nahm sie etwas heraus, das wie ein aufgebrochener Brief aussah.
Sie ahnte Schlimmes, und sie musste an den Brief denken, den Melani ihr vor über einem Jahr ausgehändigt hatte. Gab es bei Appianino erneut eine Verzögerung seiner Rückkehr? Ein Engagement in Spanien, wohin sie ihm wieder nicht folgen konnte? Wollte Appianino vielleicht sogar eine endgültige Trennung und hatte nicht den Mut, es ihr persönlich zu sagen?
»Er kam bereits letzte Woche«, erklärte Signora Lanti. »Ich wollte es dir nur nicht sagen, wo du doch mit Melani gerade ganz schwierige Stücke probst. Außerdem kann ich nicht sehr gut lesen, aber ich glaube schon, da steht, dass Gott den guten, lieben Maestro zu sich geholt hat. Es liegt noch ein zweiter Brief dabei, für dich, aber den habe ich natürlich nicht geöffnet«, setzte sie tugendhaft hinzu.
Bei dem geöffneten Brief handelte es sich um eine Bitte, das beiliegende Schreiben an ihren Sohn Tomaso Lanti, genannt Bellino, weiterzuleiten; der Patient des unterzeichnenden Arztes habe ihn diktiert, soweit er dazu im Delirium seiner Krankheit noch fähig gewesen sei. Zwei Tage später sei er verstorben.
Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Sie hielt den ungeöffneten zweiten Brief in den Händen und hörte Signora Lanti wie aus weiter Ferne bemerken: »Der Herr gibt, der Herr nimmt. Als mein guter Beppo von uns ging, hat es mir auch das Herz gebrochen. Aber glaub mir, mein Täubchen, das Leben geht weiter, auch
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