Verfuehrung
Schau, Bellino, glaubst du denn wirklich, dass es etwas ausmacht, wenn du in Ancona ein Lied auf genau die gleiche Art singst, wie du es schon in Rimini gesungen hast? Erstens sind ohnehin andere Leute dabei, und zweitens denkt die Hälfte der Zuhörer nicht daran, wie schön du singst, sondern daran, wie sie dich in ihr Bett bringen können.«
»Das tun sie nicht«, protestierte Bellino und wünschte einen Herzschlag später, sie würde dabei nicht wie ein Kind bei einer Zankerei klingen. Als Erwachsene hatte sie die Aufgabe, Cecilia ein Vorbild zu sein. »Es ist gleich, was sie denken«, fügte sie also so gemessen wie möglich hinzu. »Darauf, was ich denke, kommt es an, und ich denke, dass ich jedes Mal gut sein muss. Ein Sänger, der nicht improvisieren kann, ist niemals gut.«
Cecilia zog eine Grimasse. »Und einer Musikerin, die hässlich ist, der hört niemand zu. Es mag ja sein, dass du noch singen kannst, wenn du alt und fett bist, und dann immer noch die Leute in deine Konzerte rennen, obwohl sie nicht mehr mit dir ins Bett gehen wollen. Aber ich singe nur leidlich, und auf Laute und Klavier bin ich bestenfalls mittelmäßig. Dafür bin ich hübsch. Und jetzt sag mir ehrlich, womit soll ich mir mehr Mühe geben? Den Menschen mit etwas zu gefallen, das andere viel besser können, oder mit etwas, worin ich wirklich gut bin?«
Ohne zu lügen, konnte Bellino nicht vorgeben, dass Cecilia als Musikerin hervorragend war, doch sie konnte ehrlich sagen: »Dein Spiel macht mir Freude, Cecilia. Und du bist noch so jung. Du kannst noch viel, viel besser werden. Ganz bestimmt aber wirst du älter. Unsere Mutter war gewiss auch einmal eine schöne Frau.«
»Eine schöne Frau, die viel Spaß hatte in ihrem Leben«, sagte Cecilia störrisch. »Und einen guten Mann gekriegt hat. Wenn du nichts tust, als toll zu singen, und dann zurückschaust, dann haben doch alle anderen Leute Spaß gehabt, nur du nicht.«
Bellino öffnete den Mund, um eine scharfe Bemerkung darüber zu machen, dass Mama Lanti, ganz gleich, wie viel Spaß sie im Leben gehabt hatte, derzeit auf die wie auch immer erworbenen Einkünfte ihrer Kinder angewiesen war, aber nach der Episode mit der Contessa fühlte sie sich nicht mehr berechtigt zu solchen Kommentaren. Außerdem würde das für Cecilia ohnehin keinen Unterschied machen.
»Was, wenn Singen mein Vergnügen ist?«
»Dann haben sie dir wirklich etwas zu viel abgeschnitten«, sagte Cecilia kopfschüttelnd.
»Spürst du denn gar nichts, wenn du spielst?«
»Ich mag es, wenn die Leute mir applaudieren«, erklärte Cecilia. »Das ist schön. Wenn sie genau so klatschen würden dafür, dass ich einen netten Mann küsse, dann würde ich allerdings nur noch das tun. Wenn ich ganz ehrlich bin, das Letzte sogar ohne Applaus!« Sie musste wohl Bellinos Gefühle an ihrer Miene abgelesen haben, denn sie fügte hinzu: »Und nun sei mal ehrlich – wenn du alles Geld der Welt hättest und entweder Appianino in deinen Armen oder die Bühne in Neapel haben könntest, aber nicht beides, was würdest du wählen?«
Sie schloss den Mund, um sich in ihre Würde als älterer Bruder zu begeben. Um es glaubwürdiger zu machen und eine wirklich ehrliche Antwort zu geben, versuchte sie sogar, sich an besonders schöne Augenblicke mit Appianino zu erinnern. Das Erste, was ihr einfiel, waren ihre Spaziergänge durch Bologna, doch wenn sie versuchte, sich an die Nächte zu erinnern, dann kamen Bilder, die sie nicht gewollt hatte: die Contessa in der Kutsche, die Griechin mit Casanova heute auf dem Schiff, den Kopf zurückgeworfen, alles für wenige Minuten Genuss. Sie hörte Appianino sagen: »Meine Liebste, es tut mir leid«, und als sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, ihn zu küssen, waren Schmerz und Freude, die früher so gegenwärtig gewesen waren, zu ihrem Entsetzen blasser geworden, wie ein ehemals parfürmierter Brief, der nur noch einen schwachen Hauch seines Dufts mit sich trug.
»Siehst du«, sagte Cecilia triumphierend, ihr Zögern missverstehend.
»Wenn ich alles Geld der Welt hätte«, sagte Bellino und nahm ihre Zuflucht in Schlagfertigkeit, was ihr gestattete, am eigentlichen Kern der Frage vorbei zu antworten, »dann könnte ich mich in die Oper von Neapel einkaufen und sicherstellen, dass sie mir dort alle guten Rollen geben. Aber ich könnte Appianino trotzdem nicht mehr zum Leben erwecken. Also ist das keine gute Frage. Es sind keine gleichen Möglichkeiten, die
Weitere Kostenlose Bücher