Verführung der Finsternis: Roman (German Edition)
großen Zügen ein, genoss die Kühle auf ihrem Gesicht und kniff die Augen sogar vor dem grauschwarzen Dunkel der Nacht zusammen.
Als sie wagte, sie zu öffnen, fiel ihr Blick auf ein Gesicht, das ihr vertraut war und zugleich auch nicht. Der Mann, der vor ihr kniete, war breitschultrig und von kräftigem Körperbau, hielt sich aber so vorsichtig, als hätte er Schmerzen, und drückte eine Hand an seinen Körper. Das Hemd klebte ihm feucht und schmutzig an der Brust, und selbst ohne Licht waren die dunklen Stellen und Schwellungen in seinem Gesicht zu sehen. Darüber hinaus hatte er ein zugeschwollenes Auge und eine aufgeplatzte Lippe. Das unverletzte Auge hatte jedoch einen vertrauten goldenen Glanz, und sein Lächeln wies den gleichen jungenhaften Charme auf, an den Sabrina sich erinnerte.
Wären ihre Hände frei gewesen, hätte sie sich auf ihn gestürzt – aber ob um ihn zu umarmen oder zu verprügeln, war ihr in diesem Moment selbst nicht ganz klar.
Brendan hatte sie im Stich gelassen, sich davongemacht, als sie ihn am meisten gebraucht hatte, und sie glauben lassen, er sei tot. Und nun war er hier. Sie konnte diese letzte, schreckliche Trennungsszene wiedergutmachen. Ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte. Oder ihm vielleicht einfach nur einen ordentlichen Kinnhaken versetzen, weil er die Hölle auf sie herabgebracht hatte.
»Du«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte vor Ärger, Furcht und Freude.
»Versuch, deine Begeisterung zu dämpfen«, entgegnete er trocken.
Und einfach so, von einer Sekunde auf die andere, reduzierten sieben Jahre sich auf nichts. Sabrina zerfloss in Tränen und ließ sie ungehindert über ihre Wangen rinnen. »Den Göttern sei Dank! Daigh sagte, du lebst … und dann deine Nachrichten … Aber ich versuchte, nicht daran zu glauben, weil ich nicht enttäuscht werden wollte. Doch du bist hier! Du bist es wirklich, Brendan!« Ein unkontrollierbares Schluchzen übermannte sie, das in ihrer Kehle schmerzte.
»Das ist schon mehr die Reaktion, die ich mir erhofft hatte«, scherzte Brendan.
Sabrina schniefte. »Du hast dich verändert.«
»Sieben Jahre, in denen man ständig über die Schulter blicken muss, können das bewirken«, erwiderte er zähneklappernd.
»Und du bist total durchnässt.«
»Dank ein paar Eimern Wasser von St. Johns Lakaien.« Brendan beugte sich über ihre Handgelenke. »Ich werde versuchen, diese Fesseln zu lösen, doch es könnte eine Weile dauern. St. John hat meine rechte Hand verletzt. Ich glaube, sie ist gebrochen.«
Sabrina wandte ihm den Rücken zu, als er sich an den Knoten zu schaffen machte, und ein verlegenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
Was sollte sie sagen? Was sagte man einem Bruder, der bis vor ein paar Wochen für tot gehalten worden war? Wo war er gewesen? Wie hatte er gelebt? Warum war er gerade jetzt zurückgekehrt?
Fragen über Fragen gingen Sabrina durch den Kopf, und trotzdem blieb sie stumm, weil sie außerstande war, auch nur einen ihrer Gedanken in Worte zu fassen. Stattdessen bemerkte sie: »Du hast diese letzte Nachricht nicht geschrieben, oder?«
»Leider ja, als St. Johns Argumente irgendwann zu … zwingend wurden. Und zu schmerzlich. Und nachdem ich sie geschrieben hatte, ist er aus purem Spaß auch noch auf meinen Fingern herumgetrampelt.« Brendan atmete schwerer, noch immer arbeitete er mit entnervender Langsamkeit an den Knoten.
»Aber was will er mit mir? Welchen Nutzen könnte ich für ihn haben?«
»Die bandraoi werden sich nichts dabei denken, wenn du im Kloster herumspazierst und nach dem Rywlkoth-Wandbehang suchst.«
»Ist er denn wirklich dort versteckt?«
»Nicht mehr lange, wenn es nach St. John geht. Er hat Befehl, den Gobelin an sich zu bringen. Mit allen Mitteln. Und du, meine liebe Schwester, bist dieses Mittel.«
»Ich weiß doch nicht mal, wie der Teppich aussieht. Wie …«
»Pst!«, schnitt Brendan ihr das Wort ab und flüsterte: »Sag das nicht St. John! Lass ihn glauben, du wüsstest, welche Bedeutung der Gobelin hat und wo er verwahrt wird! Bring St. John dazu, dich ins Kloster zurückkehren zu lassen, um den verdammten Wandbehang zu holen! Und komm nicht zurück!«
»Dann wird St. John dich umbringen.«
»Ich bin vorläufig noch vor ihm sicher. Er kann mich grün und blau schlagen, doch er hat strikte Anweisung, mich am Leben zu erhalten. Wenn du ins Kloster zurückkehrst, geh zu deiner Priorin. Sie kann die Amhas-draoi holen lassen, die wissen werden, wie sie mit St. John
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