Verführung der Nacht: Ein Vampirthriller (German Edition)
ist. Geht es dir gut?«
Ich wünschte, ich könnte nur einen Hauch echter Besorgnis in dieser Stimme hören, aber da ist nichts. Das ist nur eine rhetorische Frage, um bei David Eindruck zu schinden, da bin ich ganz sicher.
»Ja, Gloria, mir geht es gut, danke.«
»Schön. Freut mich, das zu hören.« Sie neigt den Kopf zur Seite und mustert mich mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Du siehst lange nicht so schlimm aus, wie ich erwartet hätte. Na ja – bis auf dein Haar natürlich.«
David wirft ihr einen Blick zu, doch ich hebe automatisch die Hände zum Kopf. Ich habe ganz vergessen, dass ich mir nach dem Duschen die Haare nur mit einem Handtuch trocken gerubbelt hatte. Mist.
Gloria legt besitzergreifend eine Hand auf Davids Arm. »Also, wir sind nur vorbeigekommen, um dir zu sagen, dass David und ich jetzt abreisen. Er hat gesagt, du hättest einen Freund, der sich um dich kümmern würde, aber denk daran, du kannst uns jederzeit anrufen, wenn du etwas brauchst.«
Das Angebot hängt in der Luft, während wir einander beäugen. Schon klar.
Sie geht zur Tür, doch David zögert noch einen Moment. Er sieht mich stirnrunzelnd an. »Das gefällt mir immer noch nicht. Bist du sicher, dass du klarkommst?«
Ich lächle. »Aber ja. Michael wird jeden Moment hier sein.« Die Lüge kommt mir ganz leicht über die Lippen.
»Ruf mich heute Abend an, ja?«
Ich nicke und begegne dabei Glorias Blick. Ich weiß genau, wenn ich heute Abend anrufe, wird Gloria ans Telefon gehen und ihm erzählen, da hätte sich jemand verwählt.
David kommt näher, beugt sich vor und küsst mich auf die Wange. »Wir fliegen für ein paar Tage nach L.A. Morgen früh. Aber du hast ja meine Handynummer. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst. Ich bin nur einen 20-Minuten-Flug entfernt.«
Ich nicke wieder, und dann sind sie weg. Die Neuigkeit, dass David jetzt nach L.A. geht, höre ich gar nicht ungern. So werde ich ein paar Tage für mich haben, um in Ruhe dahinterzukommen, was eigentlich passiert ist. Ohne die Gefahr eines unerwarteten Besuchs. Ich wende mich dem Arzt zu.
Er starrt immer noch auf die Tür, durch die Gloria eben verschwunden ist, als hoffte er, er könnte sie zurückbeamen.
»Dr. Avery?«
Er reißt sich sichtlich zusammen, fährt sich mit der Zunge über die Lippen und dreht sich zu mir um. Er hat einen leicht benebelten, fragenden Ausdruck in den Augen. Er hat seine Patientin völlig vergessen, und auch, warum er hier ist und was er eigentlich gerade tun sollte.
Gloria hat diese Wirkung auf viele Leute. Genauer gesagt, Gloria hat diese Wirkung auf viele Männer.
Vielleicht ist sie eine Hexe. Eine echte Hexe, nicht nur die übliche fiese Cousine.
»Die Sachen?«, erinnere ich ihn sanft. »Sie wollten mir etwas zum Anziehen holen.«
Sein Blick wird klar, und er richtet sich abrupt auf. »Natürlich. Ich bin gleich wieder da.« Er drückt das Klemmbrett an seine Brust und eilt hinaus, zweifellos in der Hoffnung, einen letzten Blick auf die Göttin zu erhaschen.
Toll.
Ich öffne die Schranktür. Meine Handtasche liegt auf dem Boden, und ich hebe sie auf und gehe damit ins Bad. Ich hole den Kamm heraus und mache mich über mein Haar her, das mir nach der Dusche wirr vom Kopf steht. Kein Wunder, dass Dr. Avery fast auf die Knie gefallen wäre, als Gloria aufgetaucht ist. Ich sehe aus wie das »Vorher«-Bild in einer schlechten Shampoo-Werbung. Ich trage das Haar kurz, weil es praktisch ist, aber ab und zu muss es schon gekämmt werden, und im Moment ist es so wild verstrubbelt wie eine Perücke aus dem Gruselkabinett. Gloria muss sich wirklich zusammengerissen haben, um nicht in Gelächter auszubrechen, als sie mich gesehen hat.
Ich betrachte mein Spiegelbild genauer. Kein Wunder, dass Gloria fand, ich sehe gar nicht so schlimm aus. Ich will verdammt sein, wenn diese Veilchen um die Augen nicht noch mehr verblasst sind. Und die Wunde an meiner Stirn scheint so schnell zu heilen, dass man fast dabei zuschauen könnte.
Was ist hier los?
Ich höre, wie die Zimmertür aufgeht. »Dr. Avery«, rufe ich. »Sehen Sie sich das mal –«
Doch als ich ins Zimmer trete, ist er nicht da. Auf dem Bett liegt grüne OP-Kleidung, Hose und Kittel, säuberlich gefaltet.
Dr. Avery habe ich wohl zum letzten Mal gesehen.
Kapitel 6
I ch wohne am Isthmus Court in Mission Beach, einer so schmalen Straße, dass sie für Fahrzeuge gar nicht befahrbar ist. Deshalb lasse ich mich von dem Taxifahrer am belebten Mission Boulevard
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