Verfuehrung im Mondlicht
jetzt wieder in ihrer Gewalt hatte.
Falls Hannah überhaupt noch hier war und nicht längst wieder zu John Stoners Haus unterwegs.
Das war der schwierigste Aspekt der ganzen Sache. Concordia konnte nicht wissen, ob Hannah entdeckt worden war oder sich bereits auf dem Heimweg befand.
Sie klopfte dreimal kräftig an die Tür.
Das schwere Portal wurde von derselben blassen Miss Burke geöffnet, die Concordia letztes Mal in Miss Pratts Büro geführt hatte.
Die Frau schien sie nicht zu erkennen. »Was möchten Sie bitte?«
Concordia schwenkte das Notizbuch, das sie in einer Hand hielt. »Informiert Miss Pratt freundlicherweise darüber, dass Miss Shelton hier ist und sie zu sprechen wünscht. Ihr könnt Ihr sagen, dass Mrs. Hoxton mich geschickt hat.«
Der Name der Wohltäterin der Schule hatte einen sichtlich belebenden Effekt auf Miss Burke.
»Bitte folgt mir, Miss Shelton. Ich führe Euch zu Miss Pratts Büro. Sie bespricht gerade den wöchentlichen Speiseplan mit der Köchin. Sie findet, dass viel zu viel Essen verschwendet wird und dass die Menge an Gemüse und
Fleisch, die bestellt wird, weiter reduziert werden muss. Aber ich lasse sie wissen, dass Ihr hier seid. Sie wird sicher in Kürze bei Euch sein.«
Miss Burke führte sie rasch durch den Flur und öffnete eine Tür.
»Danke«, sagte Concordia.
Sie trat in das Büro. Miss Burke schloss hastig die Tür und huschte davon, um ihre Arbeitgeberin zu suchen.
Concordia betrachtete den Raum. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich hier nichts geändert. Edith Pratts teuer aussehender Mantel hing an einem Haken neben der Tür. Das Schild mit der Liste der Goldenen Regeln für dankbare Mädchen hing immer noch direkt über dem Schreibtisch. Mrs. Hoxton und die Königin blickten majestätisch aus ihren Rahmen herab.
Concordia betrachtete den Schreibtisch und überlegte, ob es klug war, ihn noch einmal zu durchsuchen. Vielleicht fand sie ja einen Hinweis auf Hannah.
In dem Moment drangen gedämpfte Stimmen vom Ende des Ganges bis in das Büro.
»Ich habe noch nie von einer Miss Shelton gehört.« Edith Pratt schien ziemlich aufgebracht zu sein. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum Mrs. Hoxton sie hierher schicken sollte.«
Damit war die Sache erledigt, dachte Concordia. Sie hatte keine Zeit mehr, die Schubladen zu durchsuchen.
Sie sammelte sich für die Rolle, die sie zu spielen gedachte, und wandte sich zur Tür um.
Dabei fiel ihr Blick auf den Mantel. Irgendwas wirkte deplatziert. Ja, er hatte große, dunkle Flecken am Saum.
Concordia trat dichter heran und schüttelte die schweren Falten aus. Auf der Vorderseite waren noch mehr feuchte
Flecken. Offenbar war die Schulleiterin von einem Platzregen überrascht worden.
Nur hatte es in letzter Zeit gar nicht geregnet.
Concordias Puls, der ohnehin schon heftig schlug, hämmerte jetzt in einem heftigen Stakkato. Ihre Nerven schienen wie elektrisiert, als es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel.
Der Mantel konnte auch nass geworden sein, wenn die Person, die ihn trug, zu nahe an einem großen Wasserbecken gestanden hatte, in das zufällig jemand gefallen war. Der Aufprall eines männlichen Körpers hätte das Wasser sicherlich hoch und weit genug spritzen lassen.
Beruhige dich. Denk genau nach. Ziehe keine voreiligen Schlüsse.
Es gab auch viele harmlose Erklärungen dafür, dass dieser Mantel nass geworden war. Nur wegen ihrer jüngsten Erlebnisse musste sie sofort an eine Leiche denken, die in ein Tauchbecken fiel.
Dennoch, Edith Pratt war von Anfang an in diese Angelegenheit verwickelt gewesen. Sie hatten bisher angenommen, dass sie nur eine unbedeutende Nebenrolle gespielt hatte, deren Aufgabe darin bestand, die Mädchen in der Armenschule zu verstecken.
Wenn sie nun aber alle Pratts Rolle bei diesem Drama falsch eingeschätzt hatten?
Concordia berührte einen der dunklen Flecken auf dem Mantel. Er war feucht, aber nicht durchnässt. Wenn ein schwerer, wollener Mantel wie dieser nass geworden ist, dauert es sicher lange, bis er trocknet, sagte sich Concordia.
»Ich muss Mrs. Hoxton klar machen, dass ich nicht nur wegen ihrer Launen ständig meine Arbeit unterbrechen kann.« Pratts Stimme war bereits viel näher.
Miss Burkes zaghaft gemurmelte Antwort konnte Concordia nicht verstehen.
Sie bekam kaum noch Luft. Sie musste Hannah hier herausholen. Der dunkle Keller war noch der geringste Schrecken, der sie hier erwartete. Falls Pratt tatsächlich so tief in diese Angelegenheit
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