Verfuehrung im Mondlicht
stattfanden.
An der Ecke blieb Concordia stehen und schaute ein letztes Mal zu dem düsteren Haus zurück. Sie glaubte, eine kleine Bewegung in einem der oberen Fenster zu sehen, und erhaschte einen Blick auf ein blasses Gesicht, das zu ihr heruntersah. Sie dachte an Hannahs Freundin Joan, die irgendwo in dieser Schule stecken musste.
Concordia überlief ein Frösteln. Sie hatte Glück, denn sie konnte diesen deprimierenden Ort heute einfach verlassen. Aber das junge Mädchen dort oben hinter dem Fenster und sechsunddreißig andere waren in dem düsteren Gebäude gefangen.
Ein feuchter Schleier legte sich vor ihre Augen, als sie um die Ecke ging und zu der Straße schritt, in der Ambrose mit der Droschke wartete. Sie zog ein Taschentuch heraus.
Keiner der Passanten nahm auch nur die geringste Notiz von ihr, als sie sich die Tränen aus den Augen wischte. Schließlich erwartete man von Witwen nichts anderes, als dass sie vollkommen unerwartet in Tränen ausbrachen.
20
»Bist du denn vollkommen von Sinnen?«, fuhr Ambrose sie von der gegenüberliegenden Bank der Kutsche an. »Was zum Teufel ist nur in dich gefahren?«
Sein Tonfall und dass er sie duzte, verriet Concordia, dass er wütend war. Diese Reaktion überraschte sie etwas.
Als sie vor wenigen Minuten zu der Kutsche zurückgekehrt war, hatte sie Lob und Bewunderung für ihre Initiative erwartet. Stattdessen wurde sie abgekanzelt.
»Ich habe nur einen kurzen Blick in die Aktenschränke geworfen, solange Miss Pratt nicht im Büro war.« Verärgert schlug Concordia den schwarzen Schleier über die Krempe und funkelte Ambrose an. »Ich kann nicht verstehen, warum Ihr so wütend seid, Sir. Ihr an meiner Stelle hättet zweifellos genauso gehandelt.«
»Es geht hier nicht darum, was ich getan oder nicht getan hätte. Ich habe Euch sehr genaue Anweisungen geben, wie Ihr Euch dort benehmen solltet. Vor allem hatte ich Euch eingeschärft, keinerlei Verdacht zu erregen!«
»Ich habe auch keinen Verdacht erregt, das versichere ich Euch!«
»Aber nur, weil Ihr das Glück hattet, dass Euch niemand dabei erwischt hat, als Ihr die Aktenschränke durchsucht habt!«
»Dass ich nicht erwischt wurde, hatte überhaupt nichts mit Glück zu tun!«, gab sie hitzig zurück. »Das lag aus-schließlich an meiner eigenen Vorsicht und Umsicht! Außerdem widerstrebt es mir, mich in dieser Weise von einem Gentleman belehren zu lassen, dessen Beruf ganz offenbar darin besteht, ganz ähnliche Risiken einzugehen!«
»Wir diskutieren hier nicht meinen Beruf!«
»Nein, nicht?« Sie lächelte ihn zuckersüß an. »Ihr habt mir bisher ohnehin nur sehr wenig über Euch erzählt. Ihr seid ein Mann mit vielen Geheimnissen, Mr. Wells.«
»Versucht nicht, das Thema zu wechseln. Wir sprechen hier über Euer Verhalten!«
»Um Himmels willen, Ihr benehmt Euch, als hättet Ihr das Recht, mir Befehle zu erteilen. Vergesst nicht, dass ich Eure Klientin bin!«
»Und ich bin der Fachmann, was diese Angelegenheit betrifft. Schon die Vernunft gebietet es, dass Ihr meine Anweisungen befolgt!«
»Ach wirklich? Und was wisst Ihr über die in Mädchenschulen üblichen Ablagemodalitäten der Akten? Sehr wenig, nehme ich an. Ich dagegen habe mein ganzes Berufsleben lang an solchen Institutionen gearbeitet!«
»Ihr seid eine Lehrerin, verdammt, keine Detektivin!«
»Das ist einfach lächerlich! Warum macht Ihr so ein Drama aus einem Vorfall, der im Grunde nichts weiter war als eine kluge Interpretation meiner Rolle?«
»Ich reagiere so dramatisch, wie Ihr es nennt, weil ich mich Euretwegen fast zu Tode geängstigt habe, Concordia Glade!«
Sie blinzelte. »Wie bitte?«
Er stöhnte und packte sie an ihren Oberarmen. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, zog er sie auf seinen Schoß.
»Es gibt wirklich keine Hoffnung für mich, oder?« Er klang resigniert. »Ihr treibt mich schlicht in den Wahnsinn!«
Sie hielt ihren Hut fest, der durch die abrupte Veränderung der Sitzordnung etwas aus der Fasson geraten war. »Wovon um alles in der Welt ...?«
Sein Mund presste sich mit einer Intensität auf ihre Lippen, dass ihr erst die Worte und dann die Luft wegblieben.
Die Welt außerhalb dieser schwankenden, rumpelnden Kutsche hörte auf zu existieren. Ein heißes, prickelndes Gefühl durchströmte sie. Sie legte ihre Fingerspitzen auf Ambroses Schultern. Er küsste sie jetzt schon zum zweiten Mal. Das war eine exzellente Gelegenheit zu üben, was sie beim ersten Mal gelernt hatte.
Sie öffnete vorsichtig
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