Verfuehrung in aller Unschuld
Domenico es hochziehen und den Verbandskasten daran herunterlassen konnte, Chiaras Verletzungen notdürftig zu versorgen – Schürfwunden, eine böse Prellung und ein verstauchtes Handgelenk – und das Seil dann um ihre Brust zu schlingen.
Lucy wünschte, sie hätte die Kleine nach oben begleiten können, aber dafür war der Schacht zu eng. Sie konnte nur hoffen, dass Chiara keine inneren Verletzungen davongetragen hatte. Wie auch immer, hier unten konnte sie nicht bleiben. Ihr kleiner Körper zitterte vor Kälte und vor Schock. Sie brauchte dringend einen Arzt.
Als Lucy sich endlich selbst wieder Domenicos starken Armen anvertrauen und sich von ihm hochziehen lassen konnte, war es Abend und der Himmel grau geworden. Sie weinte fast vor Erleichterung, als sie über den Rand gehievt wurde.
„Wie geht es ihr?“, fragte sie ängstlich, weil Chiara von einer Schar von Leuten umgeben war.
„So weit ganz gut, aber wir lassen sie zur Untersuchung aufs Festland bringen“, hörte sie Domenicos warme, tiefe Stimme dicht an ihrem Ohr, als er sie in die Arme zog und an sich drückte.
Ein wunderbares Gefühl von Geborgenheit durchflutete sie. Seufzend ließ sie den Kopf an seine breite Brust sinken und genoss die tröstliche Wärme und Sicherheit, die er ihr bot.
Nur weil sie sich so schwach und zittrig fühlte, natürlich.
Erst verwöhnte und liebkoste er sie, bis sie sich wie eine Göttin vorkam, dann trieb er sie mit seinen bösartigen Verdächtigungen zur Verzweiflung, und nun das!
Doch ihrem Körper war das alles egal. Er wollte nur eins – sich nie mehr von der Stelle rühren.
Benommen hob sie den Kopf, als es um sie herum laut wurde, und sah sich von lächelnden, applaudierenden Menschen umringt.
„Danke, Lucy.“ Rocco trat auf sie zu, fasste sie an den Schultern und küsste sie überschwänglich auf beide Wangen. „Sie haben unser kleines Mädchen gerettet.“
Nach und nach kamen erst die Großmutter der Kleinen und dann noch eine ganze Reihe anderer Leute auf sie zu, um ihr zu danken, sie zu küssen und zu umarmen. Während der ganzen Prozedur hielt Domenico sie fest im Arm.
Lucy wurde so warm ums Herz wie seit Jahren nicht mehr, langen Jahren der Kälte und Isolation, die sie innerlich hatten erstarren lassen. Die Herzlichkeit dieser Menschen brachte das Eis in ihr zum Schmelzen.
Schließlich wandten sich alle wieder Chiara zu, und Lucy, völlig überwältigt von ihren Gefühlen und matt vor Erschöpfung, blieb, wo sie war – in Domenicos Armen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, doch gleichzeitig rannen ihr die Tränen über die Wangen. Bald konnte sie das heftige Schluchzen nicht mehr unterdrücken, das aus ihrer Kehle aufstieg.
Domenico drückte sie an sich.
„Schon gut, Lucy. Wir bringen dich gleich nach Hause.“
Nach Hause? Seine Worte stießen ihr bitter auf. Sie hatte kein Zuhause. Sie war die ewige Außenseiterin, die nirgendwo hingehörte.
Lucy sah zu Domenico auf, konnte aber keine Spur von Arroganz oder Feindseligkeit in seinen grauen Augen entdecken. Nur einen warmen Glanz, der den letzten Rest von Kälte aus ihrem Herzen vertrieb. Es erschreckte sie, wie schutzlos sie Domenico jetzt ausgeliefert war.
„Danke, Lucy.“ Er streichelte sanft ihre Wange. Nie hatte er ernster und ergriffener gewirkt. „Du hast für Chiara dein Leben riskiert.“
Sie schüttelte den Kopf. „Das hätte doch jeder …“
„Nein. Nicht viele hätten den Mut dazu gehabt. Ohne dich hätten wir Chiara vielleicht noch gar nicht gefunden, geschweige denn gerettet.“
Zärtlich fuhr er mit dem Daumen über ihre Lippen. Lucy schmeckte das Salz ihrer Tränen auf seiner Haut.
„Ich habe dir unrecht getan“, gestand er rau. „Du bist nicht die, für die ich dich gehalten habe. Was ich heute Morgen zu dir gesagt habe …“ Gequält atmete er ein. „Kannst du mir verzeihen?“
Sie nickte verwirrt.
Dann geschah das Wunder. Domenico neigte sich zu ihr herab und blickte ihr tief in die Augen. Freudige Erwartung erfüllte ihr Herz.
Als er sie liebevoll, beinah andächtig auf den Mund küsste, war sie so glücklich, dass ihre verletzte Seele endlich Ruhe fand.
7. KAPITEL
„Natürlich ist Taddeo hier jederzeit willkommen. Daran wird sich auch nie etwas ändern. Er ist wie ein Sohn für mich.“
Frustriert fuhr sich Domenico durchs Haar, während seine Schwägerin mit schriller Stimme am Telefon auf ihn einredete. Aber sie gehörte nun einmal zur Familie, und seinem Neffen zuliebe übte er sich in
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