Verfuehrung in aller Unschuld
sich geschlagen, weil er sich von ihr verraten gefühlt hatte.
Dann hatte er den Brief gelesen und festgestellt, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Die Redaktion hatte sie wirklich nur durch Zufall aufgespürt.
Er hatte sich unmöglich aufgeführt, noch dazu grundlos. Er fühlte sich miserabel.
„Chiara ist zum Mittagessen nicht nach Hause gekommen“, hörte er Rocco sagen. „Ich muss sie suchen.“
Jetzt war auch Domenico beunruhigt.
„Wo ist Lucy?“ Er stieß seinen Stuhl zurück und erhob sich.
„Schon auf der Suche.“
Der größte Teil des Personals suchte die Küste ab, obwohl niemand aussprach, was alle befürchteten: dass Chiara ins Wasser gegangen und abgetrieben sein könnte.
Domenico folgte dem Pfad ans andere Ende der Insel, um keine Möglichkeit auszulassen. Dort lief ihm im wahrsten Sinne des Wortes Lucy in die Arme.
Er drückte sie spontan an sich. Ihr duftendes Haar leuchtete golden in der Sommersonne, und ihr warmer, geschmeidiger Körper fühlte sich an, als würde er nirgendwo anders hingehören als in seine Arme.
„Bitte“, keuchte sie und presste eine Hand an seine Brust. „Bitte, hilf mir!“
„Lucy, was ist?“
Sie war so außer Atem, dass sie kaum sprechen konnte. Über ihr erhitztes Gesicht zog sich eine breite Schmutzspur.
„Chiara?“, fragte Domenico alarmiert.
Lucy nickte. „Ja, sie ist da oben!“ Als er schon loslaufen wollte, fasste sie ihn am Hemd und hielt ihn zurück. „Nein, warte! Du bist schneller als ich. Wir brauchen ein Seil, eine Taschenlampe und einen Verbandskasten“, stieß sie hervor.
„Der alte Brunnen?“, erkundigte er sich, von kaltem Entsetzen gepackt.
„Nein, ein Schacht. Ich habe ihr Haarband und ein paar Murmeln daneben gefunden.“
Domenico erstarrte. „Ich sehe nach ihr …“
Doch sie schüttelte den Kopf und klammerte sich an ihn. „Sie rührt sich nicht. Wir brauchen ein Seil, um zu ihr hinunterzuklettern. Jede Minute zählt! Bitte, du musst mir glauben“, rief sie beschwörend.
Er wusste, wie gern sie Chiara hatte. Er musste sich auf ihr Urteil verlassen. Kurzerhand machte er kehrt.
Als er zurückkam, fand er Lucy ein Stück weiter oberhalb über die Öffnung des alten Schachts gebeugt. Mit ruhiger Stimme erzählte sie etwas von einer Prinzessin namens Chiara, die in der Stunde der Not gerettet wurde.
„Spricht sie mit dir?“, fragte Domenico hoffnungsvoll, während er sich das Seil von der Schulter riss und den Verbandskasten abstellte.
Mit ernster Miene sah sie zu ihm auf. „Nein, aber wenn sie eine vertraute Stimme hört, hat sie vielleicht weniger Angst.“
Domenico drückte ihr dankbar die Schulter. „Gute Idee, Lucy.“
„Wo sind die anderen?“
„Chiaras Großmutter sagt ihnen Bescheid, wo wir sind.“ Er sah sich suchend um. „Ich befestige das Seil an einem Olivenbaum, dann lasse ich mich hinunter.“
„Nein, ich gehe.“
Domenico leuchtete mit der Stablampe in die Tiefe, konnte aber nichts erkennen.
„Kommt nicht infrage.“ Als ob er Lucy dieser Gefahr aussetzen würde!
„Du passt doch gar nicht durch die enge Öffnung“, protestierte sie.
Wahrscheinlich hatte sie recht. Als er trotzdem etwas einwenden wollte, legte sie ihm warnend einen Finger auf die Lippen. Ihre Haut schmeckte staubig, salzig und wunderbar nach ihr.
„Hör auf zu diskutieren, Domenico. Ich gehe. Wenn ich heute Morgen mit Chiara gespielt hätte, wäre das nicht passiert.“
„Es ist nicht deine Schuld.“ Aber er war schon dabei, sie mit dem Seil zu sichern. „Du hast nichts falsch gemacht.“
Ihr langer, tiefer Blick aus großen blauen Augen traf ihn mitten ins Herz.
„Danke, Domenico. Es kommt mir aber so vor. Jetzt sag mir, was ich tun muss.“
„Keine Sorge, ich passe auf dich auf.“
Die nachfolgenden Stunden waren für Lucy der reinste Albtraum. Enge und Dunkelheit waren ihr ein Gräuel. Als sie sich durch die schmale Öffnung zwängte und in die Finsternis hinabhangelte, überfielen sie panische Erinnerungen an ihre erste, beklemmende Zeit hinter Gittern.
Sie zog sich ein paar Hautabschürfungen zu, doch zum Glück verbreiterte sich der steil abfallende Schacht, je tiefer sie kam.
Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung war Chiara bei Bewusstsein, als sie sie fand. Lucy blutete das Herz, als sie die Kleine wimmern hörte.
„Alles in Ordnung, Süße. Gleich bist du in Sicherheit.“
Doch es dauerte eine Ewigkeit, im Schein der Taschenlampe alles Nötige zu bewerkstelligen: das Seil zu lösen, damit
Weitere Kostenlose Bücher